Verstehen: Übersicht (LWBT)

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Big typescript 1.jpg

Änderungen

Die Festlegung auf voneinander unabhängige Elementarsätze, die wahr oder falsch sein können, ist unhaltbar. Die Welt besteht nicht nur aus Legobausteinen, sondern auch Räder, Schaukeln, Schieber.

Darum kann auch keine allgemeine Satzform angegeben werden. Sie wird im Tractatus aus der "Satzvariable" (den Urbildern) gewonnen. Die Allgemeinheit des Tractatus kam aus einer sub specie aeternitatis Gesamtperspektive.

Konstanten

Über die Logik unseres Sprechens können wir nicht sprechen. Das Gewicht einer Aussage liegt in ihrem Gehalt und darin, dass es eine sprachlich akzeptierte Mitteilung ist. Wir können diese Gewichtigkeit nicht dadurch erleichtern, dass wir uns von diesem Gehalt distanzieren und annehmen, es wäre dann noch dieser Gehalt. Wenn wir vom Gehalt sprechen, entfernen wir uns vom ausgesprochenen Gehalt.

Peer review. Ein Artikel ist zu beurteilen. Kann er zur Veröffentlichung in einem bestimmten Journal empfohlen werden? Jemand kommt zu einer Aussage: "Dieser Beitrag erfüllt die Bedingungen zur Publikation nicht." Damit bezieht er eine Position in der Welt des philosophischen Wertesystems. Diese Festlegung und speziell die damit verbundenen Konsequenzen kann sie nicht gleichzeitig in Frage stellen oder gar aufheben. Sie ist irreversibel. Wer bei Rot über die Kreuzung geht, kann das nicht durch die Überlegung suspendieren, dass es nur eine Möglichkeit des Überquerens einer Kreuzung ist.

Aus dieser Perspektive kann sich an den Gegebenheiten nichts überraschend ändern. Es gibt im Lauf der Zeit Umstellungen, aber das aneinandergereihte Schnappschüsse. In einem Film scheinen die einzelnen Kader einen "organischen" Zusammenhang zu ergeben. Sie stellen einen erfahrbaren Ablauf dar. Wittgensteins Tendenz ist dagegen, jeden Kader einzeln zu nehmen und jede Einbindung von Kadern in einen Filmablauf vom Kader (Augenblick), statt vom Geschehen aus zu betrachten.

Konsequenzen

Die Betrachtung verliert den weltumspannenden Charakter. Sie stößt nicht mehr auf die Dialektik der Grenze des Sinnvollen, um sich von dort in die Geste der Verweigerung zu verabschieden. Sie weicht aber auch nicht auf eine Reflexionsebene aus. Sie weigert sich weiterhin, sprachlich die Prinzipien der Sprache zu behandeln. Sie beginnt in der Sprache und kann sich nur in ihr fortbewegen.

"Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können." (Otto Neurath (1932/33): “Protokollsätze”. Erkenntnis 3. S. 206)
Neurath für Unternehmerinnen

Paukenschlag

"Kann man denn etwas Anderes als einen Satz verstehen?"

Im Tractatus ist unkommentiert davon ausgegangen worden, dass es Sätze, Welt, ihr Verhältnis und die Logik gibt. Damit treten Menschen, die Sätze bilden und mit ihnen operieren, in den Hintergrund. Der Beitrag der psychischen Konstitution bestimmter Lebewesen zum Thema wird nicht beachtet.

Der Beginn des Big Typescript setzt unvermittelt einen anderen Akzent. Wittgenstein stellt eine Frage. In ihr ist vorausgesetzt, dass Menschen verstehen. Im Tractatus wird erklärt, worin der Sinn von Sätzen besteht:

"Wir machen uns Bilder der Tatsachen." (2.1)
"Was das Bild darstellt, ist sein Sinn." (2.221)

Dagegen: Wir verstehen, daran gibt es keinen Zweifel. Wittgenstein fragt im Tractatus, wo wir die Grenze des Verstehbaren ziehen können. Was die Bedingugen dafür sind, dass wir keinen Unsinn reden. Sie bestehen darin, dass unsere Sätze der Logik der Sprache gehorchen. Diese fällt weg, es bleibt das Verstehen von Sätzen. Aus der Frage nach den Grenzen der sinnvollen Sprache wird die Frage, ob Verstehen, das wir voraussetzen, unweigerlich an die Satzbildung gebunden ist. Nicht die Logik des Satzes bestimmt das Verständliche, sondern: Verständlichkeit ist in Sätzen realisiert.

Wenn wir zum Verstehen Sätze brauchen, kann man die Frage auch andersherum stellen. Die umgekehrte Perspektive ist dann,

"Oder: Ist es erst ein Satz, wenn man es versteht?"

Ein Gebilde "Satz" wird gleichauf mit "Verstehen" an den Beginn der Überlegungen gestellt. Die beiden begrifflichen Festlegungen eröffnen unterschiedliche Perspektiven. "Verstehen" ist eine psycho-dynamische, hermeneutisch-soziale Kategorie; "Satz" kommt aus der Logik und Grammatik. Wittgenstein versucht im Folgenden, die Bedeutungsimplikationen der beiden Begriffe aufeinander zu beziehen und damit beide zu präzisieren.

"Also: Kann man Etwas anders, als als Satz verstehen?"

Aus dieser scheinbar harmlosen Frage zu Beginn des Konvolutes ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Wenn Verstehen unweigerlich an Sätze gebunden ist, bestimmt die Eigenart von Sätzen, was wir unter Verstehen - verstehen. Dann kommt die Praxis des Verstehens nicht los von der grammatischen Praxis. Dann beginnt die philosophische Arbeit damit, Sprachlehre zur Erhellung von Sinnfragen einzusetzen.