Schnädelbach

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Herbert Schnädelbachs Text findet sich in:

Hermann Drüe (Hrsg.), Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Frankfurt/Main, 2000, Daraus das Kapitel "Wahrheit", verfasst von Herbert Schnädelbach, S. 27ff

An der Formulierung "wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit", die Hegels Philosophiekonzept vorstellt, fällt auf, daß sie in Abweichung von unserem Sprachgebrauch ausdrücklich zwischen "Erkenntnis" und "Wahrheit" unterscheidet. Wir sind hingegen geneigt, Wahrheit für ein bloßes Merkmal von Erkenntnissen zu halten, d. h. Erkenntnis ist für uns durch das Wahrsein definiert - sonst handelt es sich eben nicht um Erkenntnis, sondern um bloße Meinungen oder subjektive Überzeugungen - und dies vor allem dann, wenn es sich um wissenschaftliche Erkenntnis handelt. So mag uns Hegels Formel als überbestimmt oder sogar pleonastisch erscheinen. Für Hegel selbst ist dies keineswegs der Fall, denn die Wahrheit ist ihm zufolge nicht nur ein Merkmal, sondern der Gegenstand (a) der Erkenntnis; sie ist ferner ein Singular (b), und sie ist das Ganze (c), um dessen Erkenntnis es in der Philosophie geht.

Wahrheit als Gegenstand der Erkenntnis

(a) Hegel sagt: "Die erste Frage ist: was ist der Gegenstand unserer Wissenschaft? Die einfachste und verständlichste Antwort auf diese Frage ist die, daß die Wahrheit dieser Gegenstand ist." (8, 68) "Wahrheit als Gegenstand" - dies bedeutet, daß sie objektiv ist, aber nicht nur im uns vertrauten Sinne des Gegenteils von "subjektiv", d. h. eines allgemeinen und transsubjektiven Geltungsanspruchs, sondern Wahrheit ist nach Hegel objektiv wie alle Objekte, die es zu erkennen gilt. Dieses Wahrheitverständnis ist aber keineswegs willkürlich.

Das finde ich aus mehreren Gründen problematisch:

  • Hegel hat in der Phänomenologie des Geistes eine viel attraktivere Antwort auf die Frage nach dem "Gegenstand" der Wissenschaft: er besteht in einem anderen Wissen und das kann nur mit Krampf auf einen Gegenstand reduziert werden.
  • Wahrheit als Gegenstand der Wissenschaft, wenn man sich darauf einläßt, ist eine unbeholfene Paraphrase der alltagssprachlichen Wendung "Es geht um Wahrheit" (oder ähnlichem). Das sagt nichts über den Gegenstand einzelner Wissenschaften und fällt weit hinter die Differenzierungen zurück, die wir in diesem Wiki schon über Wahrheit gemacht haben.
  • Wahrheit als Gegenstand ist interessanterweise auch Freges Formulierung. Aber in beiden Fällen bleibt offen, wieso Dinge und "die Wahrheit" sich denselben ontologischen Status teilen.
  • Wahrheit ist objektiv wie alle Objekte - das hilft nicht weiter. Wie werden Objekte denn objektiv? Wie werden Sätze wahr? Und wie hängt das zusammen? Jedenfalls komplizierter, als es darin erscheint, dass es sich um dieselbe Objektivität handelt. (h.h., 2.4.04)


Kant hatte die klassische Wahrheitsdefinition, an der wir uns auch heute noch orientieren, ironisch verabschiedet: "Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit sei." (Kant, KrV, B 82.). Jene "Namenerklärung" taugt deswegen nicht zum Kriterium, weil man sich bei dessen Anwendung außerhalb von Erkenntnis und Gegenstand müßte aufstellen können, um festzustellen, ob beide übereinstimmen oder nicht; aber auch wenn dies gelänge, müßte die Feststellung der Übereinstimmung selbst wieder wahr sein, weswegen sich das ganze Problem ständig wiederholte. (Kant sprach deswegen hier auch von einer "elendere Diallele" (Ebd.) (grch. di'allelon: durcheinander), d. h. von einem Beweisversuch, wo der Beweis das zu Beweisende immer schon voraussetzt und umgekehrt.)

In dieser Frage sind wir hier auch bedeutend weiter, als dass wir uns an der klassischen Wahrheitsdefinition orientieren würden. Von Übereinstimmung sollte man hier nur mit äußerster Vorsicht sprechen. Es geht um die Bedingungen, unter denen Sätze behauptet werden können. Und das ist erheblich komplexer, als dass "innere" Vorstellungen mit "äußeren" Dingen korrespondieren. (h.h., 1.4.04)

Hegel hingegen rehabilitiert jene "Namenerklärung" ausdrücklich als "eine Definition, die von großem, ja von dem höchsten Werte ist" (WL; 6, 266), aber nur, um sie sogleich umzudeuten: "Gewöhnlich nennen wir Wahrheit Übereinstimmung eines Gegenstandes mit unserer Vorstellung ... Im philosophischen Sinn dagegen heißt Wahrheit, überhaupt abstrakt ausgedrückt, Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst." (8, 86) Was das bedeutet, erläutert Hegel an Beispielen: "Übrigens findet sich die tiefere (philosophische) Bedeutung der Wahrheit zum Teil auch schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch. So spricht man z. B. von einem wahren Freund und versteht darunter einen solchen, dessen Handlungsweise dem Begriff der Freundschaft gemäß ist; ebenso spricht man von einem wahren Kunstwerk. ... In diesem Sinne ist ein schlechter Staat ein unwahrer Staat, und das Schlechte und Unwahre überhaupt besteht in dem Widerspruch, der zwischen der Bestimmung oder dem Begriff und der Existenz eines Gegenstandes stattfindet." (Ebd.) Wahrheit als "Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst" ist dasselbe wie Übereinstimmung zwischen Begriff und Existenz dieses Inhalts; etwas ist demzufolge wahr, wenn es so, wie es ist, mit seinem Begriff übereinstimmt. Es liegt auf der Hand, daß es sich hierum eine eigentümliche Umdeutung der klassischen, adaequatio rei et intellectus handelt: aus einer erkenntnistheoretischen Formel, die auf Aristoteles zurückgeht, ist eine wirklichkeitstheoretische Figur geworden.

Ein schöner Textbeleg für unsere wahrer-Freund-Debatte. Hier wird auch klar, dass es sich um einen Themenwechsel handelt. Es kann nur darum gehen, beide Stränge zu verfolgen und allenfalls die Frage zu stellen, wie sie sich aufeinander beziehen. (h.h., 1.4.04)

Zunächst tritt an die Stelle der Übereinstimmung von Ding und Intellekt die von Gegenstand und Erkenntnis, was genau der Kantischen Lehre entspricht, der zufolge sich die Gegenstände (als Erscheinungen, d. h. in der Erfahrung gegebene) nach unserer Erkenntnisart zu richten haben, um Wahrheit zu stiften. Kants Satz: " . . . der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", (Kant, Prol., Arr 3.) bedeutet nach der "kopernikanischen Wende", (Vgl. Kant, KrV, B XII ff) daß Wahrheit nur dort stattfindet, wo das gegenständlich Gegebene die subjektiven Bedingungen der Gegenständlichkeit erfüllt, d. h. die Formen der Anschauung und des Denkens. Wahrheit als Übereinstimmung zwischen Gegenstand und Erkenntnis - genauer: zwischen Gegenständlichkeit und subjektiven Erkenntnisbedingungen läuft Kant zufolge nicht wieder auf jene "elende Diallele" hinaus, weil uns als Erkennenden der Inbegriff der subjektiven Erkenntnisbedingungen a priori bekannt ist und wir somit ohne Zirkel feststellen können, ob und wie das gegenständlich Gegebene diese Bedingungen erfüllt oder nicht.

Wichtig ist hier aber, daß Hegel diese Kantische Umkehrung der klassischen Wahrheitsdefinition von ihrer Einschränkung auf Erscheinungen befreit und dann objektiv wendet: Nicht mehr nur Gegenstände der Erfahrung, sondern alle Gegenstände können wahr sein in dem Sinne, daß sie in ihrer Existenz mit ihrem Begriff übereinstimmen. Der Übergang von "Erkenntnis" zu "Begriff" wird dabei dadurch hergestellt, daß unter "Erkenntnis" nicht mehr bloß unsere Erkenntnis verstanden ist, sondern die richtige Erkenntnis, das erkannte Wesen und damit der Begriff des Gegenstandes im nachdrücklichen Sinne; so kann Hegel in seinen Variationen über die klassische Wahrheitsdefinition die Ausdrücke "intellectus", "Erkenntnis" und "Begriff" fast gleichbedeutend verwenden. Ist aber mit "Begriff" nicht mehr bloß der Begriff gemeint, den wir uns von einem Gegenstand machen, sondern sein begriffenes Wesen, dann ist die Ubereinstimmung zwischen Gegenstand und Begriff - Hegels "Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst (8, 86) - ein rein objektiver Tatbestand, den man wie alle anderen Tatbestände erkennen kann, und in diesem Sinne von "objektiv" erklärt Hegel die Wahrheit zum Gegenstand der philosophischen Erkenntnis. -

Wahrheit ist hier also doch kein Gegenstand, sondern eine Übereinstimmung. In diesem Schnädelbachzitat sieht man übrigens schön, wie Hegel mit der Mehrdeutigkeit aller betroffenen Problemkomponenten operiert. (h.h., 27.5.05)

Diese eigentümliche Wahrheitstheorie schließt freilich das traditionelle und unser intuitives Wahrheitsverständnis nicht aus, nur versteht Hegel unter dem, was wir "wahr" nennen - nämlich die angemessene Vorstellung einer Sache oder eines Sachverhaltes - bloße "Richtigkeit", Nach Hegel ist es ein Widerspruch, die richtige Vorstellung von einem Gegenstand, der nicht mit sich oder seinem Begriff übereinstimmt, wahr zu nennen: "Von einem solchen schlechten Gegenstand können wir uns eine richtige Vorstellung machen, aber der Inhalt dieser Vorstellung ist ein in sich Unwahres. Solcher Richtigkeiten, die zugleich Unwahrheiten sind, können wir viele im Kopfe haben." (8, 86) Daraus folgt: es ist ein Widerspruch, die richtige Vorstellung von etwas Unwahrem wahr zu nennen; wahre Erkenntnis ist nur als Erkenntnis des Wahren möglich, d. h. der objektiven Wahrheit, die das Objekt der Philosophie ist.


Wahrheit als Singular

(b) Die Wahrheit, "welche der absolute Gegenstand, nicht bloß das Ziel der Philosophie sein soll" (§ 25; 8, g r), ist Hegel zufolge ein Singular. Es kann nur eine Wahrheit geben, und ihre Namen sind "das Absolute": " ... daß das Absolute allein wahr oder das Wahre allein absolut ist" (PhG; 3, 70) - oder "Gott": "Beide [Philosophie und Religion] haben die Wahrheit zu ihrem Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne - in dem, daß Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist" (§ 1; 8, 41). Die Begründung dafür lautet: "Gott allein ist die wahrhafte Übereinstimmung des Begriffs und der Realität; alle endlichen Dinge aber haben eine Unwahrheit an sich, sie haben einen Begriff und eine Existenz, die aber ihrem Begriff unangemessen ist." (8, 86) Daß alles, was endlich ist, eine Unwahrheit an sich haben soll, begründet Hegel damit, daß die Unangemessenheit von Begriff und Realität nichts anderes als die Definition der Endlichkeit selber sei; Endlichkeit heißt eine Grenze haben, enden müssen, aus Gründen der inneren "Unwahrheit" der endlichen Dinge. "Deshalb müssen sie zugrunde gehen, wodurch die Unangemessenheit ihres Begriffs und ihrer Existenz manifestiert wird." (Ebd.)

Verständlich wird dieses eigentümliche Verständnis von "Endlichkeit" nur vor dem Hintergrund der platonischen Idee des óntos òn, des "seiend Seienden", d. h. dessen, was "seiend" ist und somit seinem Begriff, Seiendes zu sein, ganz entspricht. Nur was "seiend ist" - und dies ist bei Platon die Idee -, "ist" im eigentlichen Sinne; es schließt Nichtsein, Anderssein, Entstehen und Vergehen aus sich aus, kann deswegen nicht zu-grunde gehen und ist ewig. Dieses "wahre" Seiende ist das Hintergrundmodell für Hegels Idee von Wahrheit (21: Vgl.auch Theunissen.) als der objektiv gewandten Übereinstimmung von Begriff und Realität, und es macht zugleich verständlich, warum dieses Wahre nur eines sein kann: Sind alle endlichen Dinge mit "Unwahrheit" behaftet, bleibt als das mögliche Wahre nur eines übrig: das Unendliche, Absolute, das in der Religion "Gott" Genannte. Zugleich macht Hegel deutlich, daß dieses eine Wahre nicht einfach neben den "unwahren" endlichen Dingen steht, sondern er sagt von Religion und Philosophie weiter: "Beide handeln dann ferner von dem Gebiete des Endlichen, von der Natur und dem menschlichen Geiste, deren Beziehung aufeinander und auf Gott als auf ihre Wahrheit." (§ 1; 8, 41) Gott als die Wahrheit der endlichen Dinge - das bedeutet, daß die endlichen Dinge ihre Wahrheit nur in "der" Wahrheit haben. Schon der platonische Sokrates hatte gelehrt, daß die frommen, schönen und gerechten Dinge schön und gerecht sind nur durch das Fromme, Schöne und Gerechte selbst. (22: Vgl. Platon, Euthyphron, 6d; Gorgias, 497e ff. u. Pol., 507d ff.) Hegel wendet diese Figur auf das Wahre an: wahr sind die endlichen Dinge nur in der Perspektive des »wahren Wahren«, und in dieser Perspektive sind sie in Wahrheit unwahr, ihrem Begriff nicht angemessen, endlich, vergänglich; ihre Wahrheit ist somit ihre Unwahrheit.


Wahrheit als Ganzes

(c) Wichtig ist für Hegels Wahrheitsverständnis, daß ihm zufolge das eine Wahre nicht neben den endlichen unwahren Dingen steht, sondern die Formulierung "Gott . . , als ihre Wahrheit" (8, 4 r ) zeigt: Hegel versteht Gott, das Absolute, "die" Wahrheit auch in dem Sinne als die Wahrheit der endlichen Dinge, daß dieser Singular zugleich die Wahrheit ihrer Unwahrheit ist. Hegel unterscheidet sich von der platonischen Tradition, die bis auf Parmenides zurückgeht, vor allem dadurch, daß er das Wahre als die Einheit des Wahren und Unwahren begreift - in seinem objektiven Sinne von "wahr" und "unwahr", Hegel behauptet nicht, nur das óntos òn "sei" und alles übrige sei nicht, sondern ihm zufolge ist es auch in dem Sinne die Wahrheit der endlichen Dinge, daß sie in ihm auch ihr Bestehen haben; sie "sind" in ihm, wenn auch als endliche und vergängliche. Das Absolute nicht als das Gegenteil des Endlichen sondern als die Einheit des Unendlichen und Endlichen - dies ist eine der Grundintuitionen der Hegelschen Philosophie, die sich in seinem Konzept von Dialektik (23: Vgl. Abschnitt 1.2.2.) systematisch entwickelt findet Sie liegt auch der berühmten Formulierung "Das Wahre ist da Ganze" (PhG; 3, 24) zugrunde, der Hegel in seinem Philosophiere stets gefolgt ist: Das Ganze neben seinen Teilen - das ist nach Hege nicht das "wahre" Ganze, sondern nur die Einheit von Ganzen und Teilen ist dies; umgekehrt ist nur dieses Ganze das Wahre, da wahre óntos òn, das Absolute, Gott. So vertritt Hegel in der Wahrheitstheorie einen Holismus (grch. hólon: das Ganze) der Wahrheit der nichts Wahres außer dem wahren Ganzen anerkennt.“ (S. 33 - 38)



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