Helmut Willke: Dystopia (BW)

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Exzerpte aus Helmut Willke: Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft. Frankfurt 2002. S. 125 ff, 170ff


Im ersten Band seines Hauptwerkes notiert Karl Marx die »okkulte« Eigenschaft des Kapitals, sich selbst zu verwerten, »lebendige Junge« zu werfen oder wenigstens goldene Eier zu legen also sich selbstreferentiell zu vermehren. Kapital vermehrt sich selbstreferentiell, indem es als Wert Mehrwert erzeugt. Eineinhalb Jahrhunderte später ist ein steter Strom von Texten zu verzeichnen, die über die immer weniger okkult erscheinende Fähigkeit des Wissens berichten, über Gentechnik und Nanotechnologie Roboter mit einer »Rechenleistung« zu schaffen, welche innerhalb weniger Jahrzehnte diejenige des menschlichen Gehirns übersteigen wird und bereits um das Jahr 2060 diejenige aller menschlichen Gehirne zusammengenommen übersteigen soll. Es gibt allerdings einigen Zweifel daran, ob diese »Rechner« noch goldene Eier legen oder ob sie nicht kraft ihrer überlegenen Intelligenz und Reproduktionsfähigkeit die Menschheit überflüssig machen werden: die Zukunft braucht uns nicht mehr. In ihren erstaunlichsten Eigenschaften scheinen Kapital und Wissen also überraschend ähnlich zu sein. Allerdings ist auch denkbar, dass weiterhin so grundlegende Unterschiede zwischen Rechenleistung und Wissen bestehen, dass auch zehn hoch dreißig Rechenoperationen pro Sekunde wenig darüber aussagen, wie viel und wel­ches Wissen generiert, verteilt und genutzt werden kann oder genutzt werden wird. Die Dummheit komplexer Software ist sprichwörtlich.

Immerhin gilt, dass die Metapher des Kapitals auch jenseits von Geld und Finanzkapital erfolgreich ist. Jacques Derrida hat sie als soziales Kapital oder kulturelles Kapital zur Erklä­rung sozialer Beziehungen verwendet und in der Politikwis­senschaft ist die Rede von Machtkapital, Wählermärkten und politischen Unternehmern lange etabliert. Seit wenigen Jahren wird auch die Denkfigur des intellektuellen Kapitals genutzt, um Ähnlichkeiten der Operationsweise von Kapital und Wis­sen in organisationalen Kontexten herauszustellen. Dabei kommt in den Blick,

  • dass intellektuelles Kapital sich wie (Geld-)Kapital von der einzelnen Person als Wissensträger lösen und in Artefakten speichern und akkumulieren lässt;
  • dass intellektuelles Kapital wie Geldkapital dadurch zu einem Produktivfaktor wird, dass es körperliche Arbeit als den primären Produktionsprozess zur Herstellung von Gütern ver­stärkt und Produktivitätssteigerungen ermöglicht, die vor al­lem in Steigerungsformen des Organisieren von Kapital und Wissen begründet sind.

Im Fall von Wissen meint dies, dass das Wissen von Perso­nen durch das eigenständige systemische Wissen der Organisation potenziert und zur Grundlage innovativer Leistungen wird, die auf der Koordination und Kooperation verteilter Intelligenz beruht.

  • Weiter kommt in den Blick, dass intellektuelles Kapital wie Geld in prinzipiell beliebiger Steigerung sich rekursiv auf sich selbst anwenden lässt, so dass immer ge­wagtere Architekturen der Symbolisierung, Generalisierung und Respezifizierung, der Verknüpfung, Dekomposition und Rekombination entstehen.
  • Schließlich führt diese Aus­bildung symbolischer Systeme der Derivate von Geld und von Wissen dazu, dass diese Systeme mit wachsender Eigenkom­plexität eine spezifische Eigenlogik entwickeln, die nur noch sehr lose mit der Logik des Grundprozesses - der Herstellung von Gütern - verkoppelt ist. Die Symbolsysteme des intellek­tuellen Kapitals (wie des Finanzkapitals) entfalten eine Eigen­dynamik, die Steigerungen der Produktivität ebenso einschließen wie die Möglichkeit einer sich in Systemrisiken und Systemkrisen entladenden Destruktivität.

Allerdings gibt es auch gravierende Unterschiede in den Merkmalen und Prozessformen der Steuerungsmedien Geld und Wissen, die sich in ihre operative Verwendung als Produktivfaktoren verlängern. Sobald Organisationen in massive­rer Weise wissensbasiert und wissensabhängig werden, sobald sie also in eine Wettbewerbssituation kommen, die von ihnen verlangt, intellektuelles Kapital als prioritäre Produktivkraft zu nutzen, sind es vor allem die Unterschiede in der Wir­kungsweise von Kapital und Wissen, die Schwierigkeiten bereiten. Expertise im Umgang mit Geld impliziert keineswegs auch Expertise im Umgang mit Wissen als Ressource. Gerade Unternehmen und andere Organisationen, die sich zugute hal­ten, kompetent mit Kapital umzugehen, nehmen in aller Regel die (neuartigen) Schwierigkeiten des Umgangs mit Wissen nicht ernst genug, weil sie eher von Ähnlichkeiten als von Unterschieden beider Arten von Ressourcen ausgehen. Wis­sensmanagement bezeichnet einen Denkansatz, der darauf zlelt, die Anforderungen an Unternehmensführung im Beson­deren und Organisationssteuerung im Allgemeinen herauszu­arbeiten, die sich ergeben, wenn nach Arbeit, Material (Roh­stoffe, Vorprodukte) und Kapital nun Wissen zur knappen und kritischen Ressource für die Leistungsfähigkeit einer Organi­sation wird.

(1) Vielleicht der gravierendste - und verständlichste - Fehler in der Einschätzung der Ressource Wissen unterläuft Organisationen und ihrem Führungspersonal, weil sie Wissen und damit intellektuelles Kapital als Faktor begreifen, der an Personen gebunden ist und der sich deshalb über eine direkte Einwirkung auf Personen managen und organisieren ließe. Personen verfügen über Arbeitskraft und die unternehmeri­sche Nutzung dieser Ressource bedeutet, dass die Personen über Verträge verpflichtet werden, ihre Arbeitskraft der Organisation zur Verfügung zu stellen. Personen verfügen über Geld und Kapital und die unternehmerische Nutzung dieser Ressource bedeutet, dass Personen als Kunden, Anteilseigner oder Kreditoren sich in synallagmatischen (zweiseitig wech­selseitigen) Verträgen dazu verpflichten, ihr Geld der Organisation zur Verfügung zu stellen. Mit Wissen ist es nicht so einfach. Arbeitskraft und deren Verwendung lässt sich leicht be­obachten, zurechnen und kontrollieren. Die Verfügung über Geld und die Kontostände von Personen lassen sich leicht nachprüfen. Aber wie will man das Wissen einer Person »sehen« oder überprüfen? Wissen ist in vielen Hinsichten, und vor allem auf der Ebene von Personen, eine unsichtbare Ressource, ein »intangible asset«. Einschneidender noch ist, dass Wissen immer zunächst an die Körper (an die mentalen Systeme) von Personen gebunden ist, irgendwie dort vergra­ben und gespeichert und nicht ohne weiteres zu sehen ist. Es ist deshalb aufwendig und in vielen Fällen unmöglich, jedenfalls unsinnig und kontraproduktiv, eine Person dazu zwingen zu wollen, ihr Wissen offen zu legen oder dieses Wissen produk­tiv einzusetzen. Wissensökonomie und Wissensmanagement sind deshalb auf andere Formen der Nutzung des Wissens von Personen verwiesen.

Vor allem kehren sich mit der Priorität von Wissen die Machtverhältnisse zwischen Organisation und Person um. So lange einfache Arbeit und/oder Kapital (das in Gebäuden, Ma­schinen und anderen Anlagen gebunden ist) die wichtigsten Produktivfaktoren sind, können Organisationen, vor allem Unternehmen, ihre Mitglieder leicht austauschen, wenn diese ihre Arbeitsleistung nicht erbringen oder wenn sie durch billi­gere Maschinen oder Programme ersetzt werden können. Personen, die relevantes Wissen in ihren Köpfen mit sich herumtragen, Iassen sich so leicht nicht austauschen, wie viele Unternehmen und Organisationen nach drastischen Restruk­turierungs- und »Verschlankungsmaßnahmen«, in denen sie Wissensträger verloren haben, zu ihrer Überraschung erfahren mussten. Dies ist einer der Gründe, warum Organisationen zunehmend verstehen, welchen Wert das Wissen ihrer Mit­arbeiter, ihr intellektuelles Kapital, darstellt, und warum sie folglich ein Interesse daran haben müssen, dieses Wissen für die Organisation selbst zu sichern. Daraus entsteht ein Druck auf Experten und Wissensarbeiter, ihr implizites Wissen zu explizieren, also in einer Weise offen zulegen und verfügbar zu machen, die es anderen Personen und der Organisation insgesamt ermöglicht, auf dieses Wissen zuzugreifen und es zu nut­zen.

Damit eröffnet sich gleich ein ganzer Komplex schwieriger Probleme: Welche Gründe sollten Experten haben, ihr Wissen zu explizieren und preiszugeben? Welche Anreizsysteme sind angemessen und wirksam, um die Explikation von implizitem Wissen in Gang zu bringen? Wem »gehört« das explizierte Wissen — dem ursprünglichen Wissensträger, der Organisation oder jedem, der das explizierte Wissen aufgreift und es sich aneignet? Können Unternehmen oder andere Organisationen wie etwa eine Universität, ein Krankenhaus oder eine große Anwaltskanzlei von ihren Mitgliedern verlangen, dass ihr Spe­zialwissen, das sie in ihrer Praxis innerhalb der Organisation erworben haben, der Organisation (kostenlos?) zur Verfügung stellen? Was passiert mit der Expertise einer Person, wenn sie den Arbeitsplatz wechselt, etwa zur Konkurrenz geht? Bleibt ihr Wissen zurück wie der Computer oder das Telefon?

Noch verwickelter werden alle diese Probleme dadurch, dass relevantes Wissen und hochrangige Expertise immer we­niger von Einzelkämpfern erarbeitet werden, sondern von Ar­beitsgruppen, Projektteams oder in anderen Formen kollegia­ler Kooperation. Als weitere Steigerung kommt hinzu, dass gerade in wissensintensiven Organisationen, besonders in gro­ßen Dienstleistungsunternehmen wie Unternehmensberatun­gen, Anwaltsfirmen, Investmentbanken, Gesundheitsorgani­sationen, Forschungseinrichtungen etc., deren Aktivitäten und Expertise oft global verteilt sind, eine Vielzahl unterschied­licher Teams Projekte durchführt, in denen spezifische Exper­tise gewonnen wird. Um nicht bei jedem neuen Projekt das Rad (Methoden, Instrumente, Ansätze, Konzeptionen, Fertig­keiten etc.) neu erfinden zu müssen, sind diese Organisationen darauf angewiesen, die gewonnenen Erfahrungen und die erar­beitete Expertise möglichst ohne Verluste und möglichst schnell organisationsweit zur Verfügung zu stellen, also zu dokumentieren, zu verbreiten und zu nutzen. Damit stellt sich die Aufgabe des Wissensmanagements auf personaler Ebene, auf der Ebene von Teams und auf der Ebene von Organisationen. Die Details dieser Probleme und eine Vielzahl von Lö­sungsversuchen und praktischen Erfahrungen sind inzwischen hinreichend dokumentiert und brauchen hier nicht wiederholt zu werden.

Für unseren Zusammenhang ist ein Aspekt des Umgangs mit intellektuellem Kapital wichtig, der erst bei einer angemes­senen Berücksichtigung der üblicherweise völlig vernachläs­sigten theoretischen Fundierung des Wissensbegriffs zum Vorschein kommt — die zentrale Bedeutung von organisationa­lem Wissen für ein vertieftes Verständnis der Problematiken von Wissen, Wissenskapital und Wissensmanagement. Orga­nisationales Wissen ist Wissen, das nicht in den Köpfen von Menschen gespeichert ist, sondern in den Operationsformen, Artefakten und sonstigen Verkörperungen von Problemlö­sungskompetenz eines sozialen Systems. Organisationales oder institutionelles Wissen steckt in den personenunabhän­gigen, anonymisierten Regelsystemen, welche die spezifische Operationsweise, die Intelligenz, die Expertise und die Problemlösungskompetenz eines Sozialsystems definieren. Vor allem sind dies Standardverfahren (»standing operating procedures«), Leitlinien, Kodifizierungen, Arbeitsprozess-Beschreibungen, etabliertes Rezeptwissen für bestimmte Situationen, Routinen, Traditionen, etablierte Regeln, spezia­lisierte Datenbanken und strukturierte Informationsspeicher, expliziertes und kodiertes Produktions- und Projektwissen, Fallsammlungen, Mythen, »war stories« und Praxisgeschich­ten sowie die transpersonalen Merkmale der spezifischen Kul­tur einer Organisation. Argyris und Schön sprechen zu­sammenfassend von »maps, memories and programs«." Auch in ihren Außenbeziehungen sammelt eine Organisation Wis­senskapital an, das in den wissensspezifischen Komponenten der Beziehungen zu Kunden (Kundenwissen), zu Partnern (Kooperationswissen), zu Konkurrenten (Wissen über Wett­bewerber, »competitive intelligence«) etc. verkörpert ist, verallgemeinert auch in Patenten, Eigentumsrechten, Markenna­men etc., die eine besondere und geschützte Expertise der Organisation symbolisieren.

Das organisationale oder institutionelle Wissen ist also in die Arbeitsprozesse, in die Strukturen (Infrastrukturen ebenso wie Suprastrukturen), in die Weltbilder, Selbstbeschreibun­gen und insgesamt in die Regelsysteme von Organisationen oder Institutionen »eingeschrieben« und in diesem Sinne eingebettet. Weil es in die Gestalt eines sozialen Systems einge­schrieben ist, sich älso etwa in geltenden Regeln und dokumentierten Vorgehensweisen erheben, beobachten, nachprüfen, weitergeben, verhandeln, revidieren etc. lässt, hat es eine von konkreten einzelnen Personen unabhängige Existenz und entwickelt, wie jedes semantische oder symbolische System, ein Eigenleben, welches von Arten der Beobachtung, Interpre­tation, Nutzung, insgesamt von der Art und Weise des Ma­nagements dieser Symbolsysteme abhängt. »Societal units produce knowledge and use it collectively. Knowledge does not exist only in the minds of individuals; like other societal assets, knowledge is stored in collective facilities (from libraries to computer tapes), is made available for collective action (as when an organization retains experts), and is shifted from the service of one societal goal to the service of another.«

Organisationales Wissen ist nicht gänzlich von Personen unabhängig, denn es ist in der kommunikativen Aktivierung immer auf Akteure angewiesen. Aber innerhalb des organisa­tionalen Rahmens sind die Personen austauschbar wie die Mitglieder einer Gesellschaft, eines Vereins, eines Unternehmens, einer Universität etc., die wechseln können, ohne dass sich Identität, Prozesse, Strukturen und Wissensbasierung dieser Systeme dadurch ändern müssen. Die in Strukturen veran­kerte Wissensbasis ist »partly independent of individuals; some structure remains even if a large number of employees leave«.

Jedes soziale System entwickelt mit seiner Geschichte, seinen Traditionen und seiner spezifischen Identität eine Wissensbasierung, in der die Erfahrungen des Systems als Sys­tem sedimentieren. Dies ist ganz unvermeidlich und über den Wert oder die Qualität dieses systemischen Wissens ist damit noch nichts ausgesagt. Ein strategischer Umgang mit dieser Wissensbasierung und dem darin ausgedrückten intellektuel­len Kapital beginnt sicherlich nicht erst in der Wissensgesell­schaft, aber Wissensökonomie und Wissensgesellschaft for­cieren die Einsicht, dass es sich dabei um eine eigenständige Systemressource handelt, die in dem Maße knapp und mithin kostbar wird, wie die Leistungsfähigkeit des Systems — im Ver­gleich mit konkurrierenden Systemen — darauf beruht, dass nicht nur das Wissen von Personen die kritische Leistungs­qualität trägt, sondern in gleicher Weise auch das Wissen des Systems. Eindrucksvolle Beispiele dafür gibt es auch sonst in der Natur, etwa in Form eines Bienenstocks oder eines Termi­tenbaus. Die Intelligenz der einzelnen Biene oder Termite ist vergleichsweise bescheiden, aber die Intelligenz der sozialen Organisation des Ganzen ist bemerkenswert. Auch lange vor dem Menschen hat die Natur demnach Formen der Speicherung, Verkörperung und des Transfers von individueller sozialem Wissen erfunden, so dass dieses Wissen die Intelli­genz der einzelnen Mitglieder des sozialen Systems weit übersteigen kann und auf bestimmte Mitglieder nicht angewiesen ist.


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Besser Wissen (Vorlesung Hrachovec, 2006/07)</root>