Hegel fällt der Bildung in den Rücken (BD)

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Zum Thema: H. Hrachovec: Hegel, Bildung, Wikipedia

Hegel zur Bildung: die bekannten Aussagen

Hegel hat in der Vorrede zur "Phänomenologie des Geistes" an einigen Stellen die große Linie des platonischen "Aufstiegs" gezeichnet. Er ist damit zu einem Haupt-Gewährsmann für die philosophische Untermauerung des Bildungsbürgertums geworden.

"Allein eine vollkommne Wirklichkeit hat dies Neue sowenig als das eben geborne Kind; und dies ist wesentlich nicht außer acht zu lassen. Das erste Auftreten ist erst seine Unmittelbarkeit oder sein Begriff. Sowenig ein Gebäude fertig ist, wenn sein Grund gelegt worden, sowenig ist der erreichte Begriff des Ganzen das Ganze selbst. Wo wir eine Eiche in der Kraft ihres Stammes und in der Ausbreitung ihrer Äste und den Massen ihrer Belaubung zu sehen wünschen, sind wir nicht zufrieden, wenn uns an dieser Stelle eine Eichel gezeigt wird. So ist die Wissenschaft, die Krone einer Welt des Geistes, nicht in ihrem Anfange vollendet. Der Anfang des neuen Geistes ist das Produkt einer weitläufigen Umwälzung von mannigfaltigen Bildungsformen, der Preis eines vielfach verschlungnen Weges und ebenso vielfacher Anstrengung und Bemühung. Er ist das aus der Sukzession wie aus seiner Ausdehnung in sich zurückgegangene Ganze, der gewordne einfache Begriff desselben. Die Wirklichkeit dieses einfachen Ganzen aber besteht darin, daß jene zu Momenten gewordne Gestaltungen sich wieder von neuem, aber in ihrem neuen Elemente, in dem gewordenen Sinne entwickeln und Gestaltung geben." (PhdG, Vorrede)

"Die Aufgabe aber, das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen, war in ihrem allgemeinen Sinn zu fassen, und das allgemeine Individuum, der Weltgeist, in seiner Bildung zu betrachten. ... So durchlauft jeder einzelne auch die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes, aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Wegs, der ausgearbeitet und geebnet ist; wie wir in Ansehung der Kenntnisse das, was in frühern Zeitaltern den reifen Geist der Männer beschäftigte, zu Kenntnissen, Übungen und selbst Spielen des Knabensalters herabgesunken sehen, und in dem pädagogischen Fortschreiten die wie im Schattenrisse nachgezeichnete Geschichte der Bildung der Welt erkennen werden. Dies vergangne Dasein ist schon erworbnes Eigentum des allgemeinen Geistes, der die Substanz des Individuums oder seine unorganische Natur ausmacht. - Die Bildung des Individuums in dieser Rücksicht besteht, von seiner Seite aus betrachtet, darin, daß es dies Vorhandne erwerbe, seine unorganische Natur in sich zehre und für sich in Besitz nehme." (PhdG, Vorrede)

Ein eindringliches Beispiel: Goethes Faust in der Mittelschule. Beethovens 5. Symphonie im Musikunterricht.

Die Wissenschaft stellt diese bildende Bewegung sowohl in ihrer Ausführlichkeit und Notwendigkeit, als das, was schon zum Momente und Eigentum des Geists herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar. Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist. Die Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel. Einesteils ist die Länge dieses Wegs zu ertragen, denn jedes Moment ist notwendig, - andernteils bei jedem sich zu verweilen, denn jedes ist selbst eine individuelle ganze Gestalt, und wird nur absolut betrachtet, insofern seine Bestimmtheit als Ganzes oder Konkretes, oder das Ganze in der Eigentümlichkeit dieser Bestimmung betrachtet wird. - Weil die Substanz des Individuums, weil der Weltgeist die Geduld gehabt, diese Formen in der langen Ausdehnung der Zeit zu durchgehen und die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte zu übernehmen, und weil er durch keine geringere das Bewußtsein über sich erreichen konnte, so kann zwar das Individuum nicht mit weniger seine Substanz begreifen. Inzwischen hat es zugleich geringere Mühe, weil an sich dies vollbracht, - der Inhalt schon die zur Möglichkeit getilgte Wirklichkeit und die bezwungne Unmittelbarkeit ist." (PhdG, Vorrede)

Datenbanken sind Schnappschüsse der Welt und insoferne quasi zeitlos. Sie spielen aber eine Rolle in der Zeit, sie sind revidierbar. Hegel sieht diesen Zusammenhang auch im Bildungsprozess. Man muss bei jedem Moment "verweilen", jedes ist "eine individuelle ganze Gestalt". Das kann nur heissen: es ist separat beschreibbar, bevor es in die Dialektik eintritt. Und die Ergebnisse dieses Prozesses sind "in Evidenz" zu halten. Der Bildungsfortgang inkludiert diese einzelnen Phasen.


"Die Reihe seiner Gestaltungen, welche das Bewußtsein auf diesem Wege durchläuft, ist vielmehr die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft. Jener Vorsatz stellt die Bildung in der einfachen Weise des Vorsatzes als unmittelbar abgetan und geschehen vor; dieser Weg aber ist gegen diese Unwahrheit die wirkliche Ausführung. Der eigenen Überzeugung folgen ist allerdings mehr als sich der Autorität ergeben; aber durch die Verkehrung des Dafürhaltens aus Autorität in Dafürhalten aus eigener Überzeugung ist nicht notwendig der Inhalt desselben geändert und an die Stelle des Irrtums Wahrheit getreten. Auf die Autorität anderer oder aus eigener Überzeugung im Systeme des Meinens und des Vorurteils zu stecken, unterscheidet sich voneinander allein durch die Eitelkeit, welche der letztern Weise beiwohnt." (PhdG, Einleitung)

Bildung ist in einer Hinsicht Fremdbestimmung. Man "kommt nicht zu sich", indem man auf die eigenen Intuitionen vertraut. Wie steht der Erziehungsprozess zum Wissen?

weniger bekannt

Hegel sieht in der Phänomenologie einen Platz für "Bildung" vor. Überraschenderweise im Kapitel über "Die Welt des sich entfremdeten Geistes". Das ist das Kapitel vor "Die Aufklärung". Die Rhetorik des durch Bildung aufgeklärten Bewußtseins wird durch diese Abfolge durchkreuzt. Schon lange bevor Theoretiker, gestützt auf Hegel und Humboldt, den Niedergang der Bildung beklagt haben, hat Hegel Bildung als Niedergang beschrieben.

"Wodurch also das Individuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung. Seine wahre ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung des natürlichen Seins. Diese Entäußerung ist daher ebenso Zweck als Dasein desselben; sie ist zugleich das Mittel oder der Übergang sowohl der gedachten Substanz in die Wirklichkeit als umgekehrt der bestimmten Individualität in die Wesentlichkeit." (PhdG 364)

"Diese Entfremdung aber geschieht allein in der Sprache, welche hier in ihrer eigentümlichen Bedeutung auftritt." (PhdG 376)


"Die Sprache der Zerrissenheit aber ist die vollkommene Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung. Dies Selbstbewußtsein, dem die seine Verworfenheit verwerfende Empörung zukommt, ist unmittelbar die absolute Sichselbstgleichheit in der absoluten Zerrissenheit, die reine Vermittlung des reinen Selbstbewußtseins mit sich selbst. (PhdG 384f)

  • "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein."
  • "Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein."

Faust: Osterspaziergang


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Vergleiche auch diesen Zwiespalt.

"Alles ist ebenso, formell betrachtet, nach außen das Verkehrte dessen, was es für sich ist; und wieder was es für sich ist, ist es nicht in Wahrheit, sondern etwas anderes, als es sein will, das Fürsichsein vielmehr der Verlust seiner selbst und die Entfremdung seiner vielmehr die Selbsterhaltung." (PhdG 386)


"Es ist die sich selbst zerreißende Natur aller Verhältnisse und das bewußte Zerreißen derselben; nur als empörtes Selbstbewußtsein aber weiß es seine eigene Zerrissenheit, und in diesem Wissen derselben hat es sich unmittelbar darüber erhoben. In jener Eitelkeit wird aller Inhalt zu einem Negativen, welches nicht mehr positiv gefaßt werden kann; der positive Gegenstand ist nur das reine Ich selbst, und das zerrissene Bewußtsein ist an sich diese reine Sichselbstgleichheit des zu sich zurückgekommenen Selbstbewußtseins." (PhdG 390)

Vergleiche Denis Diderot: Le Neveu de Rameau | englisch

praktisch unbekannt

Es gibt eine Seitenlinie dieser herzzerreissenden Entwicklung. Sie beginnt beim „ruhigen Bewußtsein“. Einerseits unterliegt es der Überheblichkeit des Geistes:

"Dem ruhigen Bewußtsein, das ehrlicherweise die Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit der Töne, d. h. in eine Note setzt, erscheint diese Rede als ‚eine Faselei von Weisheit und Tollheit...‘

Betrachten wir der Rede dieser sich selbst klaren Verwirrung gegenüber die Rede jenes einfachen Bewußtseins des Wahren und Guten, so kann sie gegen die offene und ihrer bewußte Beredsamkeit des Geistes der Bildung nur einsilbig sein; denn es kann diesem nichts sagen, was er nicht selbst weiß und sagt. Geht es über seine Einsilbigkeit hinaus, so sagt es daher dasselbe, was er ausspricht, begeht aber darin noch dazu die Torheit zu meinen, daß es etwas Neues und Anderes sage. (PhdG 387)

"... die Forderung dieser Auflösung kann nur an den Geist der Bildung selbst gehen, daß er aus seiner Verwirrung als Geist zu sich zurückkehre und ein noch höheres Bewußtsein gewinne. In der Tat aber hat der Geist dies schon an sich vollbracht. Die ihrer selbst bewußte und sich aussprechende Zerrissenheit des Bewußtseins ist das Hohngelächter über das Dasein sowie über die Verwirrung des Ganzen und über sich selbst; es ist zugleich das sich noch vernehmende Verklingen dieser ganzen Verwirrung."( PhdG 389)

Andererseits hat das ruhige Bewußtsein eine Funktion, die von der „Einsilbigkeit“ bzw. „Torheit“ deutlich abweicht.

"Indem diese Sprache zerstreut, die Beurteilung eine Faselei des Augenblicks, die sich sogleich wieder vergißt, und ein Ganzes nur für ein drittes Bewußtsein ist, so kann sich dieses als reine Einsicht nur dadurch unterscheiden, daß es jene sich zerstreuenden Züge in ein allgemeines Bild zusammenfaßt und sie dann zu einer Einsicht Aller macht." (PhdG 399)

Eine unerwartete Rolle für das ruhige Bewußtsein:

  • es sammelt
  • es ermöglicht damit Vergleiche
  • es beseitigt das „Geschwätz“ durch Publizität und Relativierung


"Indem nun das ruhig auffassende Bewußtsein von diesem ganzen geistreichen Geschwätze der Eitelkeit die treffendsten und die Sache durchschneidenden Fassungen in eine Sammlung bringt, geht zu der übrigen Eitelkeit des Daseins die das Ganze noch erhaltende Seele, die Eitelkeit des geistreichen Beurteilens, zugrunde. Die Sammlung zeigt den meisten einen besseren oder allen wenigstens einen vielfacheren Witz, als der ihrige ist, und das Besserwissen und Beurteilen überhaupt als etwas Allgemeines und nun allgemein Bekanntes; damit tilgt sich das einzige Interesse, das noch vorhanden war, und das einzelne Einsehen löst sich in die allgemeine Einsicht auf." (PhdG 400)

Hegel hat die Wikipedia vorausgesehen.

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