Gerhard Roth: Worüber dürfen Hirnforscher reden - und in welcher Weise

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02/2004 deutsche Zeitschrift für Philosophie

Summary

Gerhard Roth, seines Zeichens Biologe und Hirnforscher, hat sich in den letzten Jahren der Publikation zahlreicher neurophilosophischer Bücher und Artikel angenommen. So steht auch der, in der 2. Ausgabe des Jahres 2004 erschienen "deutschen Zeitschrift für Philosophie", gedruckte Artikel unter der Ägide, die Tabus der naturwissenschaftlichen Hirnforschung und ihre Positionierung in der Philosophie darzustellen.

"Es kann den Philosophen nicht gleichgültig sein, dass Teile der Neurowissenschaften bzw. der Hirnforschung, die man inzwischen unter dem Begriff 'kognitive und emotionale Neurowissenschaften' zusammenfasst, in Bereiche vordringen, die zu den Kernbestandteilen der Philosophie gehören, wie Erkentnnistheorie und Geistes- und Bewusstseinsphilosophie, oder sich gar mit Fragen der Moral, Ethik und Willensfreiheit befassen.

mE ist die Interdisziplinarität der Philosophy of Mind, der CogSci oder auch der Kybernetik, deren Anfänge wohl als Referenz für das Ineinandergreifen, transdisziplinieren von monokulturellen Wissenschaften, eine der wichtigsten Weiterentwicklungen auf dem Weg zu einem besseren, wenn auch überbewerteten, naturwissenschaftlich angehauchten, Verständnis des Menschen. Einer Disziplin zu verbieten sich in die Gefilde einer anderen einzumischen, mutet mir äußerst einfältig an, vor allem dann, wenn sie (die Disziplin) in ihrer eigenen Theoriegetränktheit regelrecht unterzugehen scheint. Die mE beste Möglichkeit dieser Theoriegeladenheit zu entfliehen ist über die Strangification wissenschaftstheoretischer Konzeptionen.


Roths philosophische Positionen

nicht-reduktionistischer Physikalismus
Epiphänomenalismus
interaktionistischer Dualismus
mentale Verursachung


Positionen im Text

"Die Hirnforschung hat, anders als Physik und Chemie, für sich bisher keine grundlegende Methoden- und Begriffskritik durchgeführt. Hierfür war sie bisher zu jung und zu vielfältig in ihren Methoden und Gegenständen. Nichts-destoweniger ist es für eine wissenschaftliche Disziplin unabdingbar, dass sie sich eine logisch-begriffliche Basis schafft, in der festgelegt ist, worüber sie in welcher Weise reden soll."

mE bezieht sich Roth hier explizit auf eine rein sprachphilosophische Dekonstruktion von Begriffen. Jede Disziplin also braucht ihren eigenen Wortschatz, ihre eigene scientific-community-language damit sie von den anderen bloß nicht verstanden werden kann. Klarerweise bedarf es bei einem inter-/transdisziplinären Forschungsvorhaben, bei unterschiedlicher Verwendung ähnlicher Positionen und Begrifflichkeiten ein einheitliches Begriffsfeld. Dass die Hirnforschung sich an der Philosophie orientiert, ist daher viel eher als Kompliment an die Philosophie zu verstehen, alsdass sich hier darüber aufgeregt werden sollte. Programme wie CogSci laufen heute studientechnisch fast ausschließlich über das philosophische Departement. Diese Art der Neuentwicklung von Institutionen scheint in den letzten Jahren/Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. Man denke nur an den großen Bereich der Medientheorie, in denen Philosophen wie Joseph Vogl herausragendes geleistet haben, um neue interdisziplinäre Zweige zu entwerfen und Neu entstehen zu lassen.


Sprache als Entwicklung und Gegenstand

Paul Broca, der französische Neurologe machte in der Mitte des 19. Jhds. als Erster die Beobachtung, dass die Zerstörung in einem Bereich des linken Stirnlappens zu einer typischen Beeinträchtigung des Sprachvermögens führt, die man später "Broca-Aphasie" nannte. Dieser "Lokalisationismus" war neben der Neuronenlehre die erfolgreichste Theorie der Neurowissenschaften. Weitere Zusammenhänge wie etwa, dass eine Verletzung im Bereich des Stirnhirns zu Sprachstörungen, oder später ein dysfunktionaler Hippocampus zu tiefgreifenden Störungen des so genannten deklarativen Gedächtnisses und Verletzungen im Bereich des Mandelkerns zu Gefühlsarmut führen kann, haben den Neurowissenschaften eine gute Basis für ihr Weiterkommen geliefert. Diese Fülle von neurolgischen Einsichten wurde gelegentlich als "Neo-Phrenologie" bezeichnet, was eher für Spot und Häme sorgte. Kein ernsthafter und kompetenter Neurobiologe würde zB die syntaktisch-grammatikalische Sprache in das Broca-Areal "setzen" usw.


Wilhelm Wundt

"Viele Philosophen, aber auch manche philosophierende Neurobiologen, nehmen hinsichtlich der Beziehung zwischen Gehirn und Geist/Psyche den Standpunkt des Vaters der experimentellen Psychologie, Wilhelm Wundt, ein, die behauptet, dass im Bereich einfacher Wahrnehmungsleistungen und motorischer Akte diese Beziehung eng ist, dass aber bei komplexen kognitiven und psychischen Zuständen keine eindeutigen Bezüge zu erkennen sind." Diese ist eine Position die in der Diskussion um die Willensfreiheit oft vertreten wird, indem man annimmt, dass das "wollende Bewusstsein" einen gewissen Freiheitsraum besitzt, im speziellen wenn es um "wichtige" Entscheidungen geht. --> sh Libet-Experimente. Dieser Standpunkt war natürlich nur solange gültig, wie sich methodisch nur die einfachsten Sinnesleistungen und Reaktionen und ihr Bezug zu Bewusstseinsinhalten erforschen ließ. "Er gerät aber dadurch in Schwierigkeiten, dass die Hirnforschung inzwischen zeigen kann, dass auch sehr komplexe kognitive Leistungen, zB Wahrnehmungstäuschungen, aufs Engste mit neuronalen Prozessen in bestimmten Teilen der Großhirnrinde zusammenhängen." Dies wurde ua durch die Kombination von unterschiedlichen ua. bildgebenden Verfahren möglich wie etwa: Elektroenzephalographie (EEG), Magnetoenzephalographie (MEG) oder Kernspintomographie (fMRI)


Willensfreiheit als Konsequenz!?

Das lateralisierte Bereitschaftspotenzial geht dem bewussten Erleben, der bewusst-wahrgenommenen, entschiedenen, Entscheidung voraus, wenn es nach den Erkenntnissen mancher Neurobiologen geht. Der Schluss aus solchen Untersuchungen lautet oft, dass die klassisch-philosophische wie auch alltagspsychologische Aussage "mein Arm und meine Hand haben nach der Kaffeetasse gegriffen, weil ich dies so gewollt habe" nicht richtig ist. Dem subjektiv empfundenen Willensakt geht also ein neuronaler, kausal verursachter Prozess voraus, der eine Art Festlegung zu haben scheint.

mE findet hier eine Überbewertung bzw. sprachlich falsche Bewertung der Erkenntnisse statt. Nicht das was wir als freien Willen, indem Moment wenn wir ihn empfinden, sondern das was eben diesem vorausgeht, dürfte der "wirkliche freie Wille" sein. Das würde heißen, dass nicht erst die bewusste Wahrnehmung des freien Willens, diesen auch bedeutet, sondern bereits zuvor MIT unserem zutun, der Akt des Empfindens einer freien Entscheidung vorbereitet wird. Irgendwie muss sich das oft zitierte Bereitschaftspotenzial auch aufbauen, und wodurch sollte es zu einer neuronalen Aktivität kommen, wenn nicht durch den "freien Willen" der das BP sich entstehen lässt?

Trotzdem ist das Entsetzen vieler Philosophen verständlich, denn was würde passieren, und es geschah bereits, wenn ein Schwerverbrecher vor Gericht sagt: "Nicht ich bin es, mein Gehirn ist es gewesen!" und er oder sein Anwalt sich auf die Erkenntnisse der Hirnforschung berufen?

Und wieder mischen sich hier die Disziplinen, wenn Philosophen und andere Geisteswissenschaftler davor zu Bewahren versuchen, dass Hirnforscher überhaupt Aussagen über moralisch-ethische, philosophische oder juristische Postionen treffen. Als Konsequenz daraus fanden sich Psychiater, Philosophen und Strafrechtler zusammen um über einen "starken" Begriff von Willensfreiheit (Libertarianismus) zu verhandeln. Dieser besteht aus den Annahmen, "dass die Willenshandlung einer Person durch den bewussten Willen und unabhängig von kausal wirkenden Einflüssen bestimmt ist (das Prinzip der mentalen Verursachung), und dass die Person für ihre Handlung deshalb verantwortlich ist, weil sie unter identischen inneren und äußeren Umständen (vor allem in ihrem Gehirn) auch eine andere als die von ihr vollzogene Handlung hätte ausführen können (Alternativismus).

Die sich hier auftuende Frage ist doch aber, ob in einem deterministischen Weltbild hier tatsächlich eine andere Entscheidung hätte getroffen werden können. Der Diskurs in der Philosophy of Mind ist in dieser Frage noch nicht abgeschlossen. Würde man das Beloffsche Gedankenexperiment der Zombie-Welten von 1977, in denen es grob darum ging, dass zwei Welten existieren, die eine mit Bewusstsein, die andere ohne, und die jeweils darin "lebenden" Menschen unmerklich ausgetauscht würden, mit der Diskussion um die Willensfreiheit verfremden entstünden hier vermutlich interessante neue Erkenntnisse. Welche Auswirkung hätte es, wenn sich herausstellen würde, dass das Bewusstsein / Qualia für das Bereitschaftspotenzial von maßgebender Bedeutung ist? Bzw. dass das Reagieren oder Handeln aufgrund der Wahrnehmung der Außenwelt geschieht, und das BP eine Energiespitze der Wahrnehmungsrezeptoren ist!? Demnach würden wir nur Handeln, oder Empfinden, wenn da auch etwas wäre, dass uns dazu veranlasst dies zu tun.

Für Gerhard Roth scheint der Satz "nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden!" korrekt zu sein, denn "eine Entscheidung treffen" ist der Vorgang, dessen Auftreten objektiv überprüfbar ist. Wenn wir es hingegen mit phänomenalen, intentionalen oder volitionalen Zuständen wie "fühlen", "glauben", "wollen" zu tun haben, deren Ergründung bisher nicht allein aus der Beobachterperspektive heraus möglich war, genauso wenig wie es zu verstehenn ist, etwas zu glauben, zu wollen oder verliebt sein, dann können wir uns heute noch auf keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse berufen. Vielmehr sind wir auf Berichte der Versuchspersonen oder auf unsere eigene Erfahrung (Introspektion, Erste-Person-Perspektive, Inkorrigibilität usw) angewiesen. Obwohl sich natürlich eine Andersartigkeit der Gehirnströme, oder der Hormonausschüttung messen lässt, zB im Falle des Verliebt-seins, so gibt es dennoch keine Forschung die verlässlich diese Zusammenhänge aufzuzeigen imstande ist.


radikal-reduktionistischer Materialismus

"Ein reduktionistischer Ansatz ist vor allem dann gerechtfertigt, wenn ich allein aus der Kenntnis der anatomisch-physiologischen Bedingungen ein bestimmtes Phänomen voraussagen oder zumindest in seinen wesentlichen Zügen erklären kann (Einstein hat bekanntlich im Rahmen seiner allgemeinen Relativitätstheorie bestimmte Phänomene wie schwarze Löcher oder den Laser vorausgesagt, die erst Jahrzehnte später entdeckt wurden). Aus der Kenntnis bestimmter Eigenschaften der Nervenzellenmembran und ihrer Ionenkanäle kann ich die Eigenschaften des Aktionspotenzials mehr oder weniger vollständig erklären und sogar voraussagen, selbst wenn ich vorher noch nie ein Aktionspotenzial beobachtet habe. Ich könnte eventuell sogar auf Grund einer hinreichenden Kenntnis des zu einem Zeitpunkt vorliegenden strukturellen und funktionalen Zustandes des menschlichen Gehirns und der einwirkenden Sinnesreize das Verhalten eines Menschen vollständig erklären, sofern mir die entsprechenden mathematischen Hilfsmittel zur Verfügung stünden. --> sh Laplacescher Dämon


Ursachen und Gründe

"Hirnprozesse laufen auf Grund bestimmter Ursachen kausal ab, Menschen aber handeln aus Gründen. Anders ausgedrückt: Gehirne reagieren aus Ursachen, Menschen handeln aus Gründen. Der Mensch ist deshalb willensfrei, weil er aus Gründen nicht aus Ursachen handelt." Für einen Dualisten ist diese Auffassung sehr praktikabel, da es hierfür sowohl die stofflich-kausale als auch die mentale Verursachung gleichzeitig geben kann. Handeln aus Gründen ist demnach identisch mit dem Handeln auf Grund mentaler Verursachung, nicht auf Grund neuronaler Prozesse, bei denen es sich um Ursachen handelt. Der emergente Dualismus spricht davon, dass Gründe als etwas explizit Nicht-Neuronales zu betrachten sind, wobei sich die strikte vollständig neuronale Bedingtheit des Mentalen aufbrechen müsste. Laut Roth sind Gründe "bewusste Erlebnisformen" von Gehirnprozessen die Ereignisse darstellen. Danach wären "Gründe", innere erlebte und "Ursachen" die äußeren neurphysiologischen Aspekte eines umfassenden Dritten, das ganz offenbar deterministisch abläuft, uns jedoch grundlegend verschlossen ist. "Wir Menschen stehen in einem Erklärungs- und Legitimationszwang unseres Handelns, der uns bereits in der frühen Kindheit vermittelt wird, und der je nach soziokulturellem Kontext verschieden ausfällt. Daraus folgt:, dass wir zwar aus Ursachen handeln, aber dieses Handeln mit Gründen zu erklären versuchen.