Das Normalverständnis

Aus Philo Wiki
Version vom 15. Februar 2005, 12:47 Uhr von 80.109.61.244 (Diskussion)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Wechseln zu:Navigation, Suche

Ein Ding besitzt Eigenschaften, die ihm in Sätzen zugeschrieben werden. Nimmt man ein solches Prädikat, dann finden sich in der Regel andere Dinge, mit denen das erste Ding die Eigenschaft teilt. Spitz ist nicht nur die Nadel, sondern auch die Schere. Der Begriff "spitz" kommt allen Gegenständen zu, von denen wir das Prädikat korrekt behaupten können.

Aus dieser Beschreibung wird deutlich, daß Begriffe eine besondere Rolle dabei spielen, wie wir uns das Verhältnis von Einzelheit und Allgemeinheit zurechtlegen. Sie bringen Ordnung in die Welt, indem sie uns gestatten, Dinge unter bestimmten Aspekten einzuteilen.

So eine Praxis ist nicht selbstverständlich und verlangt Entstehungsgeschichten und Rekonstruktionen. Entsprechend reichhaltig ist das Spektrum der Erläuterungen zum Begriffsgebrauch.

Eine handliche Kurzfassung des Normalverständnisses gibt Kant in seiner Vorlesung zur Logik:

"Alle Erkenntnisse, das heißt: alle mit Bewußtsein auf ein Objekt bezogene Vorstellungen, sind entweder Anschauungen oder Begriffe. -- Die Anschauung ist eine einzelne Vorstellung (repraesentation singularis), der Begriff eine allgemeine (repraesentatio per notas communes) oder reflektierte Vorstellung (repraesentatio discursiva)." (A 139)

"Der Begriff ist der Anschauung entgegengesetzt; denn er ist eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, so fern sie in verschiedenen enthalten sein kann." (A 139)

Begriffe stammen aus dem Erkenntnisvermögen und richten sich auf Merkmale von bekannten Dingen. Ein Merkmal ist zunächst ein Zug der Welt, aber es ist zugleich eng mit der Erkenntnis von Welt verbunden. Wir werden auf ein solches Kennzeichen aufmerksam und setzen es zur Organisation der Umwelt ein.


Menschen koordinieren ihre Vorstellungen mit den Besonderheiten der Welt, die sie umgibt. Wenn ihnen eine Nadel fehlt, suchen sie einen anderen spitzen Gegenstand. Soweit kein Problem.

Es kommt vor, daß auf der Suche nach einem spitzen Gegenstand ein Merkmal falsch vorgestellt, gesehen oder angewandt wird. Zum Beispiel liegt das Ding nicht richtig. Aber was heißt hier "richtig"? Davon ist in der funktionierenden Koordination nicht die Rede. Wer sagt "Das ist gar nicht spitz!" beruft sich auf ein Prüfverfahren, das die Zuschreibung von Merkmalen regelt. In der Geschichte, die Kant vorlegt, ist das von Anfang an mitgedacht.


Merkmale schlagen sich in allgemeinen Vorstellungen nieder und diese wiederum werden in Prädikaten ausgedrückt. Im Subjekt-Prädikatsatz wird eine verbale Verbindung von vorgestelltem Ding und Merkmal hergestellt. Das Prüfverfahren besteht darin, daß er eine Behauptung ausspricht, d.h. einen Sprachausdruck, der wahr oder falsch sein kann.


Die Wahrheit eines Satzes wird dann so erläutert: Das Ding, dessen Namen mit einem Eigenschaftsausdruck verbunden wird, besitzt das Merkmal, welches dieses Prädikat bezeichnet. Wenn der als spitz ins Auge gefaßte Gegenstand nicht spitz ist, ist diese Abstimmung gestört.


Daß so etwas möglich ist, gehört zur Grundausstattung vorstellender und sprechender Lebewesen. Ohne diese Voraussetzung könnten sie sich nicht täuschen, aber auch nicht lernen.

Das skizzierte Grundgerüst ist auf verschiedene Weisen ausgeschmückt worden. Eine besonders wichtige Diskussion hat sich rund um die Frage entwickelt, woher eigentlich die Stabilität der Merkmale kommt. Sind das objektive Qualitäten, oder basieren sie auf Hilfskonstruktionen des Erkenntnisvermögens?


Im ersten Fall liegen sie "in der Natur der Sache", im zweiten Fall sind die erkennenden Personen (und ihre wechselnden Bedürfnisse) die letzte Instanz. Der Zwiespalt durchzieht unsere Sprachpraxis.

  • "Er hat das nicht begriffen" heißt: er verfehlt die Sache. Oder soll man eher sagen: er folgt meinen Vorgaben nicht?
  • "Etwas auf den Begriff bringen". Heißt das, sich nach einem Thema richten, oder es von sich aus bestimmen?
  • "Begriffskonflikte" - handelt es sich um inhaltliche Auseinandersetzungen, oder um verbalen Streit?