Das Daimonische

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Einleitung und Motivation

In der Vorlesung versuchen wir zu verstehen, wie die kybernetischen Phänomene der Gegenwart mit Platon zusammengehen. Im Folgenden versuche ich hier als Nebenuntersuchung, einen Aspekt der zeitgenössischen individuellen Emanzipation näher anzusehen: Es geht um persönliche Entwicklung, Talente, Mentoringprogramme, Exzellenz-Netzwerke und Konsensuale Entscheidungen.

Was soll das heißen, talentiert zu sein? (Unter welchen Voraussetzungen kann man jemanden dieses Prädikat zu- oder absprechen?) Mir stellt sich diese Frage, weil ich seit Kurzem im Vorstand eines Vereins bin, der sich "Talente Österreich" nennt. Der Verein existiert schon einige Jahre und hat dementsprechend eine bestimmte Geschichte, Gepflogenheiten und Anschlüsse. Eine der Hauptaktivitäten des Vereins besteht darin, ein Mentoringprogramm (T²) zu organisieren, in dem "Talente Talente fördern". So lautete zumindest der vom ehemaligen Vorstand übernommene Untertitel.

Es baut sich aber eine Spannung auf, sobald man außerdem in einer Basisgruppe aktiv ist, dessen Vorstellungen und Anschlüsse sich zunächst einmal recht penetrant voneinander unterscheiden. Ich denke, der Gegensatz ist offensichtlich und schnell zu benennen: Elitär vs. Egalitär. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was Emanzipation (oder: ein Zugewinn von Freiheit) bedeutet und vor allem wie man in den Prozess der Emanzipation einsteigen kann, um ein gutes Leben zu leben.

Man mag einwenden, dass es Grenzen der eigenen Prinzipien gibt und man sich für eine der Seiten zu entscheiden hat. Wer das nicht tut, ist opportunistisch.

Ich würde auf diesen Einwand mit Wikipedia antworten: Das Gegenteil von opportunistisch ist idealistisch. (Der Opportunismus stellt die Zweckmäßigkeit über die Grundsatztreue. Eine abgeschwächte Form des Opportunismus findet sich im Pragmatismus oder eventuell auch im Realismus wieder. Man kann als Gegenpol zum Opportunisten den Ideologen sehen. In diesem Begriffszusammenhang ist es schwierig, den Übergang zwischen Kompromissbereitschaft und Opportunismus zu definieren oder festzulegen.) Tatsache ist, dass wir in unserer Gesellschaft sowohl exklusive auf Auswahl basierte Mentoringprogramme sowie konsens-orientierte Gruppen finden.

Was ich mir vornehme ist, Linien durch sogenannte elitäre und egalitäre Gemeinschaften zu ziehen und Interaktionen aufrechtzuerhalten. Sobald man nämlich den Versuch aufgibt, das Verständliche und Unverständliche der beiden Bereiche herauszufinden, macht man die Entscheidung davon abhängig, wer welcher Ideologie angehört (und daher: wer wie sozialisiert wurde). Man meint den anderen zu kennen - auf Basis der Klischees, die in den In-Zirkeln kursieren und die für den In-Zirkel den Zweck haben, die eigenen Vorstellungen aufzuwerten. : das kann man als opportunistisch beschreiben. Selbst wenn wir nicht anders können, als an irgend einer Stelle Klischees auszubilden, ist nicht gesagt, dass es gut und sinnvoll ist, sie an dieser Stelle zu behalten.

Ich kann dazu Notizen aus einem Gespräch mit dem Leiter der Postgraduate Ausbildung an der Universität Wien beitragen. Er hat einen Exzellenzkurs entwickelt, der im Jahr 14.500.- EUR kostet und mit einem Großaufgebot an Phrasen beworben wird. Er zeigte soviel Managmenttraining, dass er mich zu einem Kaffee einlud. Dort wurde ein wenig klarer, worum es ihm ging und was der Anstoß war.
Der Hintergedanke war, eine Art exklusiven britischen "Club" aufzubauen, in dem die elitäre Grundvoraussetzung die Attraktion ausmacht. Meine unmittelbare Reaktion war "Udo Proksch im Demel, CLub 45". Die Antwort war, dass es zum Anspruch der Universität gehört, sich an die alleroberste Schicht der Wirtschaft und Verwaltung zu wenden. Also einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem die Vorsitzenden der Aufsichtsräte nicht mit ihren Abteilungsleitern zusammentreffen. Darauf als Reaktion erfand ich einen Witz. "Was ist der Unterschied zwischen einer Prostituierten und der Universität Wien? -- Die Universität Wien steht nicht am Gürtel, sondern am Ring."
Ich konnte einen Punkt deutlich machen, nämlich dass die marktschreierische Werbung für so ein Vorhaben an der genannten Absicht vorbeizielt. Die angesprochenen Top-Manager kommen nicht über Broschüren. Solche Werbematerialien sind eigentlich nur eine Vorkehrung für das Fussvolk. So wie Mercedes und BMW mit den Spitzenmodellen werben, um die simpleren Modelle zu verkaufen. Es geht um das Image der Marke "Universität".
Das alles vorausgeschickt, muss ich gestehen, dass ich an der Idee eines erlesenen Clubs nichts auszusetzen habe. Solln sie doch machen, warum soll die Uni nicht ihr Prestige und ihre holzgetäfelten Räume zur Verfügung stellen?
Doch welchen Zweck hatte dann der Witz? Er hatte doch genau darauf gezielt, dass ein Image von Universität, das den Akzent auf Exzellenz setzt, unzureichend ist und damit den erlesenen Clubs ihre Grenzen angedeutet? --Andyk 16:22, 8. Dez. 2010 (UTC)
Also halt. Nicht zwischen "Exzellenz" und "Elitarität" zu differenzieren halte ich jetzt für ein bißchen problematisch, zumal ja elitäre Strömungen den egalitären gerne vorwerfen, diese würden ignorieren, daß es Leute gibt, die hochbegabt sind und einer besonderen Förderung bedürfen - während egalitäre Richtungen gerne dagegen argumentieren, daß die gängige Form der Elitenbildung nicht danach fragt, wer eine exzellente Denkerin ist. Den Witz lese ich (überspitzt formuliert) als: Ich suche nicht nach den besten Liebhabern der Welt, indem ich mich am Gürtel aufstelle. --H.A.L. 14:48, 19. Dez. 2010 (UTC)
Exzellenz und Elitarität gehen doch Hand in Hand, denn jede Elite wird nach Außen ein Image anstreben, das Exzellenz ausstrahlt. Diese Gruppe von Leuten ragt auf eine gewisse Art hervor und die Prämisse, dass sie hervor ragen, legitimiert eine soziale Abgrenzung von Gewöhnlichen, mit allen möglichen (Un-)Annehmlichkeiten. Besondere Leute gehören besonders behandelt. Eliten machen irgendwann die Grenzen zu und sagen: OK, wir haben gewisse Besonderheiten, auf die wir den Akzent setzen. Die Mitglieder müssen in dieses Raster passen, um den Stempel "Besonders gebildet | Besonderer Jäger | Besonderer Jurist" zu bekommen. Darüber hinaus wird nicht mehr differenziert, was du genau für ein Mensch bist, solange es nicht mit dem Raster in Konflikt steht. Das ist eine Art, mit Vielfältigkeit umzugehen, lokal gesehen vielleicht gar nicht die Schlechteste. Zeit zum darüber reden ist es dann, wenn eine der Gruppen meint zu wissen, das das Beste für alle anderen ist und alle Hebel bekommt, um dieses Beste umzusetzen. --Andyk 02:08, 28. Dez. 2010 (UTC)
Sie gehen Hand in Hand, aber sie sind nicht dasselbe. Es ist eben nicht jede elitäre Gruppe automatisch exzellent (und auch wenn eine Gruppe ursprünglich durch ihre Exzellenz zur Elite aufgestiegen ist, heißt das nicht, daß sie nicht irgendwann die Garantie der Exzellenz verliert und trotzdem Elite bleibt). Zugegeben, mein Einwand paßt nicht ausgerechnet auf diese Stelle, vermutlich paßt er sogar zu dieser Stelle schlechter als zu anderen, an denen von Exzellenz die Rede ist. Aber ich habe generell das Gefühl, daß im gegenwärtigen Diskurs die beiden Ausdrücke geradezu synonym gebraucht werden, und das suggeriert, daß jede Elite automatisch exzellent ist. Es ist verständlich, daß sich jede Elite gerne als Exzellenzgruppe bezeichnet, aber es ist weniger verständlich, daß das alle gleich mitmachen. --H.A.L. 13:07, 14. Jan. 2011 (UTC)
Ich denke, ich verstehe deinen Einwand. Elite hat mit Macht zu tun, Exzellenz mit Qualifikation. Sobald wir aber eine Antwort auf die Frage der Qualifikation geben, ist die Herausbildung von Eliten nicht mehr weit. Was sagt eigentlich: "Er ist qualifiziert?" Oder: "Sie ist exzellent?" Es fehlt gerade das Qualifizierende. "Er ist qualifiziert für ...". "Sie hat hohes Potential für...". Erst dann wird das ganze eine Aussage, die man bestreiten, bejahen oder überprüfen kann. Wenn jemand zu dir sagt: "Du bist ein High-Potential" dann bleibt das Qualifikationsmerkmal implizit. Klar ist nur, dass einem zugesprochen wird, in irgendeiner Form herauszuragen. Das besagt aber auch der Satz "Du bist nicht ganz normal." Wenn ich Potential höre, denke ich an eine Differenz, an eine Spannung. Damit ist wohl jene Einstellung gemeint, in der der momentane Zustand nicht selbst genügt sondern übersteigert werden muss auf einen gewünschten oder zumindest vorgestellten Zustand. Das ergibt ein Streben, eine Bereitschaft (ein Potential forciert eigentlich zur Bewegung in eine bestimmte und nicht in eine andere Richtung) etwas anzupacken, um den Zustand in Richtung des angepeilten Zustandes zu überwinden. Mit den Gedanken ist man schon dort. Wenn man Autofahren lernt, wird einem auch gesagt, man soll, um die Spur zu halten, nicht unmittelbar vor das Auto schauen sondern weit nach vorne. Das gibt einem Orientierung und Geradlinigkeit, doch lässt interessante phänomenale Details verblassen. Jetzt hab ich mich aber verlaufen :-) --Andyk 00:25, 16. Jan. 2011 (UTC)
Ich war da selber ungenau. Momentan sehe ich zwei interessante Faktoren am Begriff "Exzellenz", von denen ich vorhin einen vernachlässigt habe. Zum einen hat das Wort "Exzellenz" selbst schon elitaristische Konnotationen. "Exzellent" bedeutet eben so etwas wie "herausragend". Damit bezeichnet man tendenziell eine kleine Gruppe der Besten im Gegensatz zur breiten Masse. Exzellenz könnte man als die Elite der Qualifikation bezeichnen. ("Elite" ist da ein mehrdeutiger Begriff, Elite kann man vielleicht in Bezug auf verschiedene Faktoren sein, aber in der Praxis wird er meistens gebraucht als "Elite der Macht".) Insofern kann man an einer Universität, die sich nur die Exzellenz auf die Fahnen schreibt, bereits kritisieren, daß sie den Rest der Studenten vernachlässigt. Deshalb paßt der Einwand wohl auch nicht unbedingt zu dieser Stelle.
Der andere Faktor ist eben, daß eine Elite der Macht sich gerne als Elite der Qualifikation ansieht und daß es für den Diskurs ungünstig ist, wenn man nicht zwischen den Begriffen unterscheidet. Eine Universität, die "Exzellenz" als Schlagwort im Repertoire führt, kann grundsätzlich tatsächlich auf die Qualifiziertesten ausgerichtet sein, sie kann aber auch auf Leute fokussiert sein, die sich nur für die Exzellenz halten. Das spielt in diesem Gespräch eine Rolle. Wenn der "Exzellenzclub" die Aufsichtsratsvorsitzenden bedient, dann ist die oberste Schicht der Wirtschaft und Verwaltung entweder identisch mit der Gruppe der allerfähigsten Leute oder in dem Paket ist nicht das, was draufsteht.
"Potential - Spannung - Differenz" ist ein interessantes Begriffsfeld. Eine Batterie hat Potential, das sich entfalten kann - um das zu sagen, muß ich sie nicht mit anderen Batterien vergleichen. "Das Wichtigste an der Universitären Lehre ist das Potential der Studentinnen" heißt nicht dasselbe wie "das Wichtigste an der Universität ist das Potential derer, die hohes Potential haben."
Noch ein paar Gedanken zu der Wendung "Potential für..." - Zum einen gilt es in der Lehre auch herauszufinden, wofür jemand qualifiziert ist oder Potential hat. Ein wichtiges Paradigma der Bildung besagt, daß jeder Mensch irgendein Potential hat und daß es nicht (nur) darauf ankommt, wieviel Potential jemand hat, sondern auch welche(s). (Ein Mensch ist halt keine Batterie, egal was die Wachowskis sagen. :-)) Insofern ist für den Bildungsapparat "Potential" ohne zusätzlichen Qualifier wichtig. (Übrigens muß man noch differenzieren zwischen "Potential" und "Talent" - jeder Mensch hat das Potential, bestimmte Lebenswege zu beschreiten, und selbst wenn einmal jemand auftauchen sollte, der überhaupt kein Talent hat, stünden ihm irgendwelche Möglichkeiten offen, mit diesen Nicht-Talenten zu leben, und die Aufgabe der Bildungseinrichtungen wäre es dann, ihm auf den optimalen Lebensweg zu helfen.)
Zum anderen sind für die Gesellschaft bestimmte Potentiale besonders interessant, und es gehört auch zur Bildung, zwischen den Potentialen des Individuums und den Anforderungen von außen zu vermitteln. (Der "optimale Lebensweg" soll erstens optimal für das Individuum sein und zweitens optimal für die Allgemeinheit, also für die ganzen anderen Individuen.) Das hat seine Bedeutung in diesem Zusammenhang, weil es vielleicht Leute gibt, die ungefähr sagen würden, daß die gegenwärtigen Universitäten über den Anforderungen der Gesellschaft das Individuum vernachlässigen, und weil es Leute gibt, die sagen würden, daß die Gesellschaft momentan gar nicht das fordert, was für die Allgemeinheit am besten ist.
PS: Du meinst wohl eher verfahren :-) --H.A.L. 14:16, 17. Jan. 2011 (UTC)
Siehe Lausanne: Warum nicht Rolex als Sponsor?
OK, das ist ein Argument. Rolex stellt seine finanziellen Mittel zur Verfügung, um der Universität ein architektonisch eindrucksvolles Lern-Gebäude zur Verfügung zu stellen, und natürlich um in jedem 10. Satz erwähnt zu werden: "I am going to study at Rolex", wie man etwa an der EPFL sagt, wobei Rolex die Abkürzung des Gebäudes (Rolex Learning Center) ist. Ich würde sagen, das ist eine Win-Win-Situation. --Andyk 02:08, 28. Dez. 2010 (UTC)
Eine Schwierigkeit ergibt sich allerdings daraus, dass in solchen Unternehmen dann auch Philosophen auftreten, die der versammelten Elite ihre klugen Gedanken vorlegen. O ja, wir verstehen uns auf raffinierte Pointen. Meine eigene Befindlichkeit ist allerdings derart, dass ich mich immer ein wenig danebenbenehmen würde. Da sind wir nun beim Ausser-Gewöhnlichen. --anna 20:52, 6. Dez. 2010 (UTC)
Offenbar habe ich mich beim Erstellen des Werbematerials auch daneben benommen, meine Reaktion war leider weniger elegant: Die gedruckten Flyer enthielten zwei Tippfehler und ein kryptisches Platon-Zitat. Beide Elemente, so wurde behauptet, würden Talente abschrecken. Letzteres, weil man des Alt-Griechischen fähig sein muss, um Daimon nicht mit Dämon zu verwechseln. Dass Talente dämonisch sein könnten, das würde ich doch nicht behaupten wollen und selbst wenn: Das schreckt die Kunden ab. Den Punkt mit den Tippfehlern sah ich ein. Meine Reaktion auf den anderen Punkt war, dass ich einen weiteren glatte Werbespruch vermeiden wollte und dass man Talenten zumuten kann, etwas zu lesen, was beim Ersten Lesen nicht sofort kategorisierbar ist. Das hat man eingesehen, doch das Zitat war trotzdem nicht akzeptabel.
Das ist eine Frage von Image. Nicht von Universität, aber von Talent, wenn es so etwas gibt. Im Nachhinein betrachtet kann man zweifeln, ob das so außer-gewöhnlich war, aber zumindest hat es eine kleine Debatte angeregt. Ich muss sehen, was ich nun mit diesem Zitat mache. --Andyk 16:22, 8. Dez. 2010 (UTC)
Ich habe mit dem Spruch auch meine Probleme. Zum einen ist das Problem nicht, daß die Talente den Spruch nicht kategorisieren können, sondern daß sie ihn gleich kategorisieren, aber falsch. Das ist nicht unbedingt die Art Irritation, die ein Bildungserlebnis fördert. Vor allem aber kommt mir vor, daß der Spruch die Leute bevorzugt, die seinerzeit Griechisch hatten oder zumindest nahe genug am gängigen Bildungskanon waren, um mal was von einem Daimonion gehört zu haben. Es gibt Sprüche, die irritieren, und solche, die sich hinter gelehrten Wörtern verschanzen.
Kategorisierungen, die sich einem beim genauen Hinsehen als nicht passend herausstellen, haben meiner Meinung nach schon etwas mit Bildung zu tun! Eine Problematik, die du ansprichst, hat der Spruch aber: Man kann ihn so verwendenen um seine Überlegenheit zu demonstrieren, indem man den Effekt, dass das Wort daimon nicht gängig ist, ausnutzt, um sein Wissen darüber darzustellen und das sogar noch als wichtigstes Wissen herausstellen. In einem Werbe-Plakat kann man das aber nicht tun. In einer spiegel-artigen Form findet sich eine Frage, darunter ein Bild, das Anders-Sein signalisiert, eine URL, ein Bewerbungsdatum und dieses Zitat. Die Betrachterin ist dem ohne Erläuterung ausgesetzt. Das Thema des Plakats scheint Talentförderung für Studierende zu sein. OK, schon klar worum es da geht. Exzellenz-Netzwerke, Business, Karriere. Und dann ist da noch ein Platon-Zitat, wo zweimal das Wort Daimon (klingt wie Dämon) vorkommt, gekoppelt mit dem Wort Lebenslauf. Was soll man davon halten?
* Ich denke, es ist nicht zu klassisch (aber sicher kanonisch ^^), Google nach dem Wort daimon zu befragen (und dann vielleicht sogar auf diese Wiki-Seite zu stoßen, um zu erfahren, dass der Designer selbst nicht so genau weiß, was er davon zu halten hat).
* Die Betrachterin könnte herausfinden, dass das Zitat gar nicht in der Apologie steht (so wie angegeben). Nicht, dass die fehlerhafte Angabe beabsichtigt war, aber: Quellenangaben sind mit Vorsicht zu genießen :)
* Oder aber sie verzichtet auf Google und Nachschlagen, denn man kann ja nicht bei jedem Plakat, an dem man vorbeigeht, eine halbe Stunde stehen bleiben und sein Notebook auspacken. Sie approximiert das gelesene Zitat daher unmittelbar als eine Erläuterung: Es geht darum, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. (Ich denke, soviel kann man auch ohne "Daimon" verstehen) <== So gesehen passend zu den Vorstellungen nach Karriere, Lebensplanung und Zeitmanagement. Und da so etwas (like it or not) tatsächlich im Mentoringprogramm passieren wird, ist es nicht völlig verfehlt, diese Reduktion zu wählen. --Andyk 22:06, 25. Dez. 2010 (UTC)
Ja, wie schon gesagt, das Problem ist nicht nur, daß man das Wort so verwenden könnte, sondern besonders, daß es zu einem Bereich von Wörtern gehört, die bereits ausgiebig so verwendet wurden. Zu häufig werden die Inhalte der humanistischen Bildung eingesetzt mit dem Subtext: Dieses Plakat ist nur etwas für Leute, die mit dem Spruch etwas anfangen können. Das halte ich für problematisch gerade bei einer Kampagne, die darauf abzielt, eine Exzellenzgruppe zu bilden. Viele Talente mit einem weniger humanistischen Background werden von einer solchen Art Irritiation eher abgeschreckt als angespornt. - Ansonsten haben wir ja schon festgestellt, daß alternative Fassungen "Schicksal" übersetzen und nicht "Daimon". Das ist zwar vermutlich ungenauer, aber doch klarer zu verstehen, und für ein Plakat reichts. :-) --H.A.L. 13:07, 14. Jan. 2011 (UTC)
Ein ähnliches Argument wurde in der Diskussion im Organisationsteam gebracht. Ich finde aber problematischer, einen Spruch deswegen zu glätten, nur weil er die falsche Zielgruppe ansprechen könnte. Die Assoziation bei Daimon mit Dämon zeigt eine Ambivalenz, die man bei Schicksal nicht hat, die man beim Thema Lebens- und Karriereplanung (und den Motivationen, die man so hat) aber bedenken sollte. Schicksal ist übrigens nicht weniger humanistisch.--Andyk 18:07, 16. Jan. 2011 (UTC)
Mir fällt grad ein Spruch ein, der nur mäßig irritierend ist, aber umso besser auf das Thema Bildung paßt: "Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts" (ich hatte mir eingebildet, ihn Brahms zugeschrieben gelesen zu haben, aber Yahoo belehrt mich, daß es Hanns Eisler war). Es braucht ein Minimum an abstraktem Denken, um zu sehen, was das mich als Philsoophiestudenten angeht. --H.A.L. 14:48, 19. Dez. 2010 (UTC)

Splitter und Quellen

Ich beginne mit einem Platon-Zitat, das ich an zentraler Stelle für das Werbematerial des Mentoringprogramms verwendet habe. Von hier beginnend versuche ich die oben skizzierte Spannung zu verstehen:

Nicht wird ein Daimon euch erlösen
sondern ihr werdet euch einen Daimon
wählen, den Lebenslauf wählen, mit dem
ihr dann notwendig verbunden bleibt.

Ich bin erst später drauf gekommen, dass es aus dem 10. Buch der Politeia stammt (617e) und Teil des Endspurts der ganzen Untersuchung in diesem Werk ist. Eine alternative Übersetzung dieser Textstelle:

"nicht euch erlost das Lebensverhängnis, sondern ihr wählt euch das Geschick. Sobald einer gelost hat, so wähle er sich eine Lebensbahn, womit er nach dem Gesetze der Notwendigkeit vermählt bleiben wird" (Quelle)

Nochmal in Englisch aus dem Perseus-Projekt, wo sich auch der Griechische Text findet:

"No divinity shall cast lots for you, but you shall choose your own deity. Let him to whom falls the first lot first select a life to which he shall cleave of necessity" (617e)

Die Reclam-Ausgabe (übers. Karl Vretska):

Nicht euch wird ein Daimon erkiesen, sondern ihr wählt euch euren Daimon! Wer als erster kiest, wähle als erster das Leben, mit dem er zusammenbleiben wird und unwiderruflich! (RUB 8205).

Dann müßte es aber in der ersten Übersetzung "erlosen" heißen und nicht "erlösen", ansonsten heißt die Stelle etwas ganz anderes als in allen anderen Übersetzungen (siehe unten).


  • Kontext: Platon Politeia, Buch 10, speziell 614-621 (das ganze ist in einer recht langen Geschichte über Lebensweisen eingebaut, die erzählt wird, um zu beantworten, welche Belohnung jene Personen bekommen, die gerecht sind)

Auf den ersten Blick las ich (in der anscheinend fehlerhaften Übersetzung): Der Daimon wird euch nicht erlösen (aus irgendeinem Zustand herausführen), sondern wird euer Leben lang mit euch verbunden sein (euren lebenslauf bestimmen). Das würde durchaus für einen Dämon passen, es hieße: Euer Talent wird euch nicht erlösen, sondern euch euer Leben lang umhertreiben. Ein romantisches Bild (ich finde es tatsächlich mal was anderes als die üblichen Werbesprüche), aber anscheinend sehen das nicht alle so.

Anscheinend ist die Aussage der Stelle aber: Nicht unser Lebenslauf (Talent?) sucht uns aus, sondern wir wählen unser Schicksal. Das scheint im Widerspruch zu stehen zu Vorstellungen wie "nicht nicht habe mich entschieden, Künstler zu werden, sondern die Kunst hat mich gewählt". Aber nur auf den ersten Blick, denn den Lebenslauf wählt man zwischen Tod und Wiedergeburt. Man ist also sein Leben lang gebunden an etwas, das man außerhalb des Lebens gewählt hat. Vretska kommentiert (RUB 8205, S. 630, FN 55 zu Buch X):

617e) ein Daimon erkiesen: Die Rätsel des Lebensschicksals hatten die Griechen zu dem Glauben geführt, daß in der Welt die neidische Willkür der Götter herrsche; daneben aber erhob sich allmählich immer stärker die Erkenntnis von selbstverschuldetem Leid aus eigener Verblendung. Solon hatte daraus die Forderung nach dem gerechten Leben erhoben, da Zeus doch schließlich dem Recht zum Sieg verhelfe; daneben aber mußte er auch eine dem Menschen nicht ganz erklärbare Macht als wirksam anerkennen. Dieses Nebeneinander von selbstverschuldetem und schicksalsgesandtem Unglück war die Grundlage für die Lebensauffassung der Tragödie. Platon stand vor einer schweren Aufgabe: er konnte den Zufall nicht walten lassen, ohne sein System der Erziehung aufzugeben; er mußte andrerseits die auch dem Weisen nicht ergründbaren Schicksalsläufe im Leben anerkennen. Seine Lösung finden wir hier: er überträgt alle Schuld auf den Menschen, läßt ihn abeer sein Schicksal schon vor der Geburt wählen. Da er noch im Jenseits mehr oder weniger vom Lethe [in der griechischen Mythologie ein Fluß in der Unterwelt, dessen Wasser das Gedächtnis auslöscht] trinkt, weiß er im Diesseits nichts mehr oder nur wenig von seiner "Erbschuld" und glaubt an die Schuld des Gottes. Die Macht der Erziehung kann also am Menschen nichts mehr grunsätzlich ändern (Gold, Silber und Erz sind schon verteilt: 415a), sondern nur entfalten helfen und vorsorgen, daß er bei der nächsten Wahl nach seinem Tod, also nach 1000 Jahren, vernünftiger wählt als vorher. Daher die ungeheure Bedeutung der richtigen Erziehung für Platon (618b/c).

Diese Erklärung ist aber ebenfalls geglättet von dem, was man im 10. Buch lesen kann. Denn Platon macht sehr wohl die Unterscheidung zwischen dem Lebensschicksal, das man sich im Jenseits gewählt hat und den erworbenen Fähigkeiten. Wichtig (im Diesseits) ist, wie man diese beiden kombiniert. (siehe unten "Der Mythos als Richtschnur im Diesseits) --Andyk 22:06, 25. Dez. 2010 (UTC)

Die Bedeutung der Stelle wäre etwa: Alles, was dir widerfährt, ist deine Entscheidung und deine Verantwortung, und du bist an deine Entscheidung ein Leben lang gebunden. Will man Jenseits und Wiedergeburt weglassen und die Stelle etwa auf die Studienwahl beziehen, könnte man sie vielleicht interpretieren als: Dein Studium ist deine Entscheidung, du kannst ohne Einschränkung jedes Studium wählen, das angeboten wird, und die Wahl des Studiums wird dein ganzes Leben bestimmen. So wäre das eine Gegenposition gegen den Exzellenzgedanken, weil es die Einstellung "Manche Leute sind von ihren Begabungen her einfach nur für gewisse Studien geeignet" ablehnte. --H.A.L. 14:48, 19. Dez. 2010 (UTC)

Ich denke, dasss man in diesem Mythos Jenseits und Wiedergeburt gar nicht so einfach eliminieren kann. Der Sinn, die Entscheidung ins Jenseits zu verlagern ist, von einer für uns unverständlichen Verteilung von Begabungen - oder sagen wir Leidenschaften, wegzukommen, die nicht gänzlich durch Fleiß/Anstrengung/Übung auszubalancieren sind. Platon lässt von einer Sphäre berichten, wo die Entscheidung vorab getroffen wurde - und zwar nicht von einem Gott sondern von einem selbst. Durch die Wiedergeburt bekommt das Diesseits eine Bedeutung als Vorbereitunsphase für die nächste Entscheidung. Ohne Jenseits bräuchte man zumindest etwas Rundenbasiertes. "Wähle eine Spielfigur mit x Stärkepunkten, y Magiepunkten und z Equipments.".
Ich glaube nicht, daß der springende Punkt die Rundenbasierung ist, also die Vorstellung, daß sich die Wahlmöglichkeit sozusagen identisch wiederholen wird. Die Essenz des Gedankens sehe ich darin, daß man an einem Punkt eine Wahl treffen kann und später den Konsequenzen dieser Wahl unterworfen ist; ich bin bestimmten Einflüssen unterworfen, für die ich selbst verantwortlich bin. Ansonsten: Was für eine Bedeutung hätte dieses Zitat für einen Exzellenzclub, wenn es eine Wiedergeburtslehre voraussetzt? - Na gut, in dem Mythos kann ich die Wiedergeburt wirklich nicht weglassen, aber die Frage ist nicht nur, was Platon beschreibt, sondern auch, was das, was Platon beschreibt, für mich bedeutet. --H.A.L. 13:07, 14. Jan. 2011 (UTC)
Keine identische Wiederholung, aber eine gleiche. Eine Wahl hat Konsequenzen, da stimme ich zu. Ich finde es deswegen wichtig, das Rundenprinzip nicht bloß als überkommenes Anhängsel zu sehen, weil es für mein Empfinden auf eine Asymmetrie hinweist, die wir noch heute finden. Es wird ein Unterschied zwischen zwei Situationen gemacht die sich abwechseln: Einmal bist du oben und kannst bestimmen, was mit dir (später) geschieht und sonst bist du unten und musst das Beste aus den gegebenen Entscheidungen "von oben" machen. Im Mythos ist angelegt, dass sich der Spieß umdrehen kann - doch das dauert seine Zeit. Das Tolerieren von Entscheidungen von oben - jene Machtlosigkeit - soll erträglich werden sobald man sich in die Situation denken kann, wo man oben ist und entscheidet. Das ist eine von diesen Spannungen, die einen "hoch hinaus" treiben. "Im Bachelorstudium müsst ihr die Grundlagen lernen. Doch dann im Masterstudium habt ihr die Freiheit, euch entsprechend eurem Interesse zu spezialisieren. Dafür müsst ihr aber erst den Bachelor bestehen." Das hilft dir über das Bachelorstudium hinweg. Nun entscheidest du dich für ein Masterstudium und wieder musst du in den sauren Apfel beißen, denn für wirklich wissenschaftliche Fragestellungen hast du erst im PHD-Studium Zeit. Ein gutes PHD-Studium bekommst du aber nur mit einem guten Master. Analoges kann man sicher für die Karriereleiter finden. Wenn man es so idealtypisch betrachtet, ist es eine Verzögerungsstrategie, die die Leute davon abhält, im Augenblick das zu tun, was sie tun möchten. Das ist ein Aspekt der Zivilisierung, den Platon anzielt und heute zu folgendem führt: Menschen werden für Häuser selektiert.--Andyk 01:30, 16. Jan. 2011 (UTC)
Ja, aber die Rundenbasierung impliziert viel mehr als die Unterscheidung der Situationen. Im Mythos treffe ich jedesmal die gleiche Art Wahl auf der gleichen Ebene von Bedeutung, der Wechsel von Auswahl und Unterworfenheit ist streng zyklisch. Ich wähle ein Leben, das Leben läuft ab, und dann muß ich die gleiche Wahl noch einmal treffen. Das ist wie ein befristeter Vertrag für einen Dienst, den ich benötige, aber immer nur einmal, so als ob alle Internetprovider ihre Verträge prinzipiell für ein Kalenderjahr ohne Verlängerungsoption anbieten würden - jeden Dezember müßte ich entscheiden, welchen Vertrag ich diesmal nehme (kann auch der gleiche noch einmal sein). Im wirklichen Leben treffe ich verschiedene Entscheidungen unterschiedlicher Tragweite, die auch nicht notwendigerweise aufeinander folgen. Zum einen kann ich ein Zeitschriftenabo bestellen, und wenn es ausläuft, muß ich nicht ein neues wählen, sondern kann es auch bleiben lassen; und wenn ich ein neues Abo will, kann ich es bestellen, ohne das alte zu kündigen. Ob ich Zeitschrift B abonniere, hängt nicht davon ab, ob ich Zeitschrift A noch beziehe. Und im Studium wähle ich einmal die ganze Studienrichtung und ein anderes Mal "nur" eine Lehrveranstaltung. Das habe ich mit Rundenbasierung gemeint. Das herausragende Element des Konzepts "Runde" ist, daß sie sich wiederholt, nicht daß sie unterschiedliche Abschnitte hat. Bei einer Runde auf der Trabrennbahn etwa gibt es überhaupt keine Unterteilungen von einer Tragweite, die dem Wechsel von Wahl und Unterworfensein oder Diesseits und Jenseits gleichkommt, es gibt nur irgendwo eine Markerung, an der eine Runde aufhört und die nächste anfängt.
Der Studienablauf funktioniert schon wieder ganz anders als das von Platon gezeichnete Schema. Welchen Master ich wählen kann, hängt von meinem Bachelor ab. Bei den Lebensläufen kann ich jederzeit ganz von neuem wählen, von meinem bisherigen Leben hängt allenfalls ab, wie weise ich geworden bin und wie geschickt ich wählen kann. Beim Studium muß ich unten anfangen und kann mich schrittweise hocharbeiten. Im Jenseits kann ich grundsätzlich gleich ein selbstbestimmtes Leben wählen, und ich kann mich zwar hocharbeiten, aber auch zurückfallen, das liegt nicht am Studienplan, sondern an mir. - Eigentlich schwächt die Vorstellung der Rundenbasierung die Tragweite der Entscheidung sogar ab, denn wenn ich mich einmal bei der Wahl vertue, kann ich es das nächste Mal besser machen.
Aber ich glaub, jetzt wirds langsam beckmesserisch. Eigentlich wollt ich mich momentan gar nicht so sehr mit dem Mythos beschäftigen, sondern damit, wie sich das Zitat auf dem Flyer macht. Und im Zitat kommt kein Tod und keine Wiedergeburt vor. Da geht es um eine Wahl, die man selbst trifft und die das ganze Leben beeinflußt, ohne einen Hinweis darauf, daß der Fokus viel größer ist als ein lumpiges Leben. --H.A.L. 17:50, 17. Jan. 2011 (UTC)


Man darf nicht vergessen zu erwähnen: Es ist ein Mythos. Heute haben wir - zum Teil überlagert - weitere Vorstellungen davon, wie es zu Talenten und Leidenschaften kommt (Psychotherapie, Verhalten, Entwicklungsbiologie, genetisch,...).

Texte zum Thema Daimon

  • Das Daimon-Portal (Lexikon-Artikel zu Daimon, Daimonion, ...)
  • Rafael Capurro: Engel, Menschen, Computer
    • "Die abendländi­sche philosophische Tradition spricht von "daimones", "göttlichen Wesen" und "intelligentiae separatae". [...] Vor diesem Hintergrund mag es vielleicht weniger befremdend erscheinen, wenn nach der Relevanz der thomistischen Engellehre für die philoso­phische Anthropologie vor dem Hintergrund der Ansprüche der KI-Forschung bzw. der daraus entstehenden mythischen Visionen gefragt wird. Soweit ich feststellen konnte, ist der hier darzustellende Zusammen­hang in der philoso­phischen Literatur bisher nicht erörtert wor­den (4). Die Suggestibilität der thomistischen Engellehre, scheint mir, vor allem an­gesichts unserer jüngsten Träume bezüglich der Schaffung einer uns überra­gende "künstlichen Intelli­genz", be­sonders nahe­liegend. Was unter anderem dadurch zum Vorsch­ein kommt, ist die Suche nach der menschli­chen Selbst­be­stimmung zwischen Natur und Geist. Mit anderen Worten, der Mensch begehrt nicht nur, was unter ihm ist, sondern er strebt über sich hinaus."
  • Das Klischee und die Endlichkeit der Erkenntnis
    • "Unaufgearbeitete Erfahrungsreste, unverdauliche Brocken im Zusammenhang der Kommunikation, sind nicht bloß verpaßte Aufgaben. Es ist auch illusorisch, die Erledigung aller Aufgaben zu verlangen. Bisher war nur von Anforderungen die Rede, die im regulären Erfahrungsprozeß auftauchen können. Die philosophische Sicht reicht darüber hinaus. Nirgends steht geschrieben, daß die permanente Revision der Ausgangsvoraussetzungen das letzte Wort über Erkenntnis ist. Es gibt keine Garantie, daß dieser von der atemberaubenden Entwicklung wissenschaftlich-technischer Möglichkeiten vorangetriebene Anspruch nicht eine glatte Überforderung des ihm zugrundeliegenden Substrat ist. Bevor Erkenntnis unter diesem Druck funktionsunfähig wird, nimmt sie Zuflucht zum Klischee. Traditionell ist die Untersuchung jener Denk- und Wirklichkeitformen, die der ständigen kritischen Bestätigung der Empirie entzogen sind, Metaphysik genannt worden."
  • Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen
    • "Tatsächlich sind wir nicht mehr Opfer eines Übermasses an Schicksal, an Illusion und an Bedrohung, sondern Opfer einer Abwesenheit von Schicksal und eines Übermasses an Realität, an Sicherheit und an Effizienz so dass gerade das Übermass dessen, was uns rettet und schützt, heute mörderisch geworden ist. Darin liegt heute die Gefahr, in der Positivität, im bedingungslosen Heil durch die Technik. Doch gewiss steht dem etwas Unüberwindliches entgegen, und wir müssen als Anklang an den Satz von Hölderlin jenen zutiefst geheimnisvollen von Heidegger anführen: "Blicken wir in das zweideutige Wesen der Technik, dann erblicken wir die Konstellation, den Sternengang des Geheimnisses." Ein rätselhafter Aphorismus, denn er widerspricht Heideggers eigener Theorie über die Technik als Annektion und Wesensverlust - eine negative Ontologie, welche den gesamten Technizismus durchzieht, der (und das ist das "perfekte Verbrechen", von dem wir sprachen), zur endgültigen Beseitigung des Geheimnisses des Universums beiträgt, zur völligen Sichtbarkeit, zur absoluten Identifikation, mit anderen Worten zum Tod. Und dennoch schimmert durch diese Formel eine andere Hypothese: die einer übermächtigen Reversibilität, die sich letztendlich gegen den unerbittlichen Prozess der Desillusionierung durchsetzen würde. In dieser Hypothese gäbe es am äussersten Horizont der technischen Entwicklung etwas anderes, das Auftauchen einer anderen Spielregel. Der ironische Widerstand des Geheimnisses am Ende eines aussergewöhnlichen Anspruchs, es zu zerstören, zu eliminieren, zu vernichten. Letztlich ist die Technik vielleicht nur ein riesiger Umweg, der uns zur radikalen Illusion der Welt zurückführt - ein riesiger, von unserer Kultur erdacht Umweg, und damit ihre ureigenste Art und Weise des Auftauchens und des Verschwindens, an dessen Ende irgendein Ereignis möglich bleibt, doch davon wissen wir nichts. Wir wissen nichts von einem unvorhersehbaren Ereignis, das endlich jenseits der Metaphysik eintreten könnte und zu dem uns ironischerweise die Technik hinführen würde, in dem Masse gerade wo sie nach Heidegger die absolute Verwirklichung der Metaphysik ist."
  • Die Visualisierung des Außer-Ordentlichen
    Mein Versuch, das Außer-Ordentliche in einem Werbematerial für ein Mentoringprojekt darzustellen
    • "Der Heilige war ein Mensch, aber das ist kein Familienalbum. Der Zweck der Abbildung ist eine Transzendenz. Die Pointe dieser Ikone ist, dass diese Transzendenz durch die Schematisierung einer Fotographie erreicht wird. Man möchte sagen durch den Rückschritt auf veraltete Darstellungsmittel. (Vgl. die Interieurs des 19. Jahrhunderts in "Blade Runner" und "Matrix".) Welche Mittel stehen zur Visualisierung des Ausserordentlichen zur Verfügung? Eine Strategie: Entzeitlichung, Abstraktion, Statik. Die Anfertigung einer Form. Hier eine Zeichenkette: 2,4,6,8,10,12,14,16. Gibt es Gemeinsamkeiten? Was fällt Dir auf? ==> "2n+2". Das ist 'die Form dahinter'."
    • Eine andere Strategie: Störung einer Reihe oder Form. Indem das Außer-Ordentliche als Ordentliches, als Abstraktion, als Vor-Bild dargestellt wird, muss es doch den Charakter des Außer-Ordentlichen verlieren? Als Störung verliert es jedoch das Erhabene und Strahlende. An die Stelle der Sonne tritt das Gewitter.
  • Jan Patocka - Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte.
    • die Unterscheidung zwischen "dem Alltäglichen, dem 'Alltag', und dem Außerordentlichen und Feierlichen. Das Außerordentliche und Feierliche entlastet auch, aber nicht durch Flucht vor der Verantwortung, sondern in dem es jene Dimension im Leben entbirgt, in der es nicht um die Last der Verantwortung und die Flucht vor ihr geht, sondern in der wir hingerissen sind, in der etwas Stärkeres als unsere freie Möglichkeit und unsere Verantwortung in unser Leben einzudringen und ihm einen Sinn zu geben scheint, der ihm sonst unbekannt ist. Das ist die Dimension des Dämonischen und der Leidenschaft." (S.119)

Anknüpfung

Ich habe diese Seite jetzt schon mehrfach gelesen und ich habe immer noch das Gefühl, die Verknüpfung mit den Themen aus der Cyberplatonismus-Vorlesung nicht ganz erfasst zu haben. Könnten wir gemeinsam versuchen, die Zusammenhänge ein bisschen expliziter zu machen? Ich fange einfach mit einer kleinen Aufzählung an und bitte um Ergänzungen und Spezifizierungen: --PW 07:54, 7. Dez. 2010 (UTC)

  • Der Bildungsbegriff im Ausgang von Platon - paideia - persönliche Entwickung, Talent etc.
  • Platon als Technokrat
  • Darstellung des Außerordentlichen - Abstraktion, Alte Darstellungsmittel, Störung.

Ein Punkt der mir hier besser explizierbar scheint ist der des Hinführens zur Störung/dem Außerordentlichen. Das ist ja ein Moment Platons Sokrates, das in der Spiegelthematik praktisch nicht zu sehen war. Sokrates führt Leute gezielt mit seinen Fragen zu einer Irritation, zu der sie ohne Sokrates vielleicht später, vielleicht aber auch gar nicht gelangt wären. Er weist ihnen einen Weg aus ihrem common-sense Verständnis der Welt hinaus. Er macht dies aber nicht indem er behauptet "so und so ist es", sondern er bietet mittels Fragen die Richtung an und lässt die Antwortenden selbst die Erfahrung machen fortzuschreiten. Das ist eine Form von Mentoren-Mentalität. In dieser Art des Lehrens begegnen Sokrates verschiedenste Menschen die unterschiedlich darauf reagieren. Nicht jeder ist bereit Sokrates antwortend zu folgen, manch einer wendet sich auch einfach ab.

Das kann man auch mit den Matrixüberlegungen verknüpfen. Im Film agieren die bereits Befreiten auch als Mentoren für Neo in seinem Umgang mit der neuen Situation als Wissender der Matrix. Sie weisen ihm den Weg, gehen muss er ihn selbst. Deutlich wird das vor allem bei Neos ersten Sprungversuchen in den Übungsprogrammen. Im Film ist aber vor dem Herausholen aus der Matrix bereits eine gewisse potentielle Skepsis oder Irritation bei Neo vorhanden. Es ist also eine Stufe zwischen der Störung die der Einzelne beim Erblicken des Spiegelbildes alleine erfährt und dem sokratischen Hinführen zur Störung durch jemanden. --Yadseut 16:34, 7. Dez. 2010 (UTC)

Finde die Verknüpfung auch interessant:

  • Beim Neo hat man ausserdem den Exklusivitätscharakter. Es umgibt ihn der Ruf, "der Auserwählte" zu sein. Morpheus krallt sich an dieser Hoffnung fest, weil das Orakel ihm prophezeit hat, dass er ihn finden wird.
  • Sokrates spricht am Marktplatz mit allen, nicht nur mit den bereits Irritierten. Sokrates geniesst aber auch eine Exklusivität. Er wird (wiederum von einem Orakel) als derjenige stilisiert, der der Weiseste ist. Und zwar, weil er der Einzige ist, den seine Umgebung und besonders das Verwendung von Begriffen irritiert anstatt sich mit endlichen und lokalen Verwendungsweisen abzufinden.
  • Neo läuft aber zunächst nicht durch die Gegend und verwirrt die Leute. Sondern er wird angesprochen von den Wissenden Trinity, Morpheus und der ganzen Bande (von Mentoren). Er wird übergeführt in "ihre Welt" (wo man Brei isst), er wird trainiert. Das Clan-Wissen um die Realität soll genutzt werden, um den Simulationen der Matrix zu entkommen und das Wissen des Clans gegen sie einzusetzen. Erst, wenn man das geübt hat, kann die Befreiung losgehen. --Andyk 21:00, 7. Dez. 2010 (UTC)

Eine kleine Ankdote von gestern abends. In einem Gespräch mit einer Juristin über Menschenrechte gab es viele Informationen über die historischen Voraussetzungen, die organisatorische Verankerung, die Defizite und Chancen. Auch über neuere Initiativen, "die Wirtschaft" mit dem Thema bekannt zu machen. Z.B. Sotchi oder der Bau von Staudämmen. Die Menschenrechtskonvention ist von den UN im Gefolge der Katastrophen des 2. Weltkriegs beschlossen worden, viele Staaten haben sie ratifiziert. Ich fragte danach, wie hier der Ausdruck "Rechte" funktioniert.

Wenn man einen Vertreterkauf abschließt, hat man das Recht, den Vertrag innerhalb einer Woche zu kündigen. Das ist in einem Gesetzbuch des Staates niedergelegt. Das Parlament hat das beschlossen. So soll das mit den Menschenrechten wohl nicht sein. Worauf beruft man sich - allenfalls gegen den Staat - wenn man sie "einklagt"? Antwort: "Diese Rechte sind den Menschen inhärent. Man hat sie durch die Geburt." Darauf ich: Durch die Geburt hat man (hoffentlich) vier Gliedmaßen und ein Herz, aber keine Rechte. Verwunderung. Bin ich ein Philosoph, wenn ich sowas frage? Auserwählt? --anna 15:07, 12. Dez. 2010 (UTC)

Durch diesen Beitrag sehe ich eine Differenz zwischen dem, was man beim Philosophieren tut und der Exklusivität etwa eines Mentoringprogramms. Denn inwiefern und vor allem von wem soll man auserwählt sein, wenn man so etwas fragt? Sokrates konnte noch sagen, er ist den Athenern von Gott geschickt worden, wie man in der Apologie lesen kann. Worauf beruft man sich heute, wenn man so etwas fragt? Auf eine Tradition? Auf seine philosophischen Kolleginnen, die einem bestätigen, dass diese Frage ein Wert für sich ist? Auf ein Muster des Philosophierens? Auf eine Ahnung? Wie exzessiv kann man das sinnvollerweise betreiben? Und weiter: Hört man auf, ein Philosoph zu sein, wenn man nicht mehr so fragt? Denn einmal mit dem Fragen begonnen, geht man das Risiko ein, dass die Verwunderten in Folge aufhören zuzuhören ("das bringt uns jetzt nicht weiter.") oder dem Fragenden be-wundern für seine Weisheit und nach Antworten verlangen (welche vielleicht sogar schon gut vorbereitet sind). Man ist im ersten Fall von der Zwischenposition aus der Situation hinaus-, im zweiten Fall in die Situation hineingerutscht. In beiden Fällen findet man sich in anderen Rollen wieder (Aussenseiter/Verrückter oder Führungskraft), in denen man schwer diese Art von Verwunderung auslösen kann. Die Profession der Philosophie ist vielleicht, sich mit ein paar Schlenkern aber tendenziell in der Zwischenposition zu halten. --Andyk 22:34, 12. Dez. 2010 (UTC)


Metabemerkung: Ich muss zugeben, dass ich eine Weile gezögert habe, bevor ich die oben angeführten Fragmente hier ins Wiki gestellt habe, aus mehreren Gründen:

  • Da gibt es einen Sprung zwischen den in der Vorlesung angesprochenen Themen und dem hier angeführten. Es ist nicht direkt aus der Vorlesung entwickelbar, obwohl ich denke, dass es Verknüpfungen gibt.
  • Es kommt aus einer privaten Motivation heraus. Da ich bei diesem Thema um Talente ein wenig anstehe, wollte ich die Gedanken nicht im stillen Kämmerchen machen sondern öffentlich zur Debatte stellen.
  • Es sind Fragmente. Die Gedanken und Verknüpfungen, wie PW verständlicherweise bemerkt hat, sind noch nicht formuliert. Ich arbeite mich ein wenig durch das Material. Werde über die Weihnachtsferien noch einiges nachliefern und freue mich, wenn noch jemand für die Fragestellung Interesse hat. --Andyk 21:00, 7. Dez. 2010 (UTC)

Ein Mythos als Richtschnur fürs Diesseits

Also was ich gestern gemacht habe, war das 10. Kapitel von der Politeia zu lesen, in der das Daimon-Zitat vorkommt. Ich war überrascht, worauf Platon hier Bezug nimmt, nämlich auf die Geschichte eines Mannes, der "der Pamphylier Er" genannt wird. Er ist der Sohn des Armenios... whatever. Er ist nach 10 Tagen wiederauferstanden (das kommt uns bekannt vor ;-) ), um einen Erfahrungsbericht aus dem Jenseits zu geben. Die Geschichte dient zur Erklärung, welche Belohnung gerechte Menschen nach ihrem Tod erwarten können. Zuvor macht Platon aber darauf aufmerksam, dass der Gerechte auch am Ende des Lebens genau das bekommt, was Glaukon im zweiten Buch dem Ungerechten zugesteht. Der Spiess wird am Ende also noch umgedreht:

"Denn ich werde doch nun behaupten dürfen, daß die Gerechten, wenn sie älter geworden sind, in ihrem Staate die Ämter haben, wenn sie wollen, daß sie aus einer Familie heiraten, aus welcher sie wollen, daß sie ihre Töchter verehelichen, an wen sie wollen, und überhaupt alle äußeren Vorteile, die du von deinen Ungerechten behauptest, behaupte ich nun von meinen Gerechten. Und andererseits werde ich doch auch von Ungerechten sagen dürfen, daß die meisten von ihnen, wenn sie auch in den früheren Jahren unentlarvt bleiben sollten, am Ende ihrer Laufbahn erwischt und zuschanden werden; daß sie im späteren Alter im Elende leben; daß sie von Mitbürgern wie Fremdlingen bittere Mißhandlungen, Peitschenhiebe und alles andere erleiden, dessen Aufzählung nach deiner Aussage allerdings etwas plump lautet: alle diese Qualen denke auch von mir aufgezählt gehört zu haben, in der Überzeugung, daß sie den Ungerechten widerfahren"
Dass der Gerechte am Ende ein gutes Leben hat, wird ihm durch eine soziale Konfiguration garantiert. Die Ungerechten werden im Idealfall (und den Idealfall auszuarbeiten und wirksam darzustellen, darum geht es Platon in der Politeia, soweit ich das verstanden habe) erwischt und bestraft. Im Kontext eines solchen Staates muss einem vernünftigen Agenten einleuchten, dass Gerecht-sein die bessere Alternative ist, wenn man auch nur diese Art von "äusseren Vorteile" erreichen will. In der Spieltheorie würde man sagen: Platons Staat ist ein frühes Beispiel eines Mechanismus Designs. Durch die Regeln und Voraussetzungen des Spieles kommt am Ende heraus, dass eine bestimmte Verhaltensweise sowohl "kollektiv rational" als auch "individuell rational" ist, nämlich gerecht-handeln. Gerechtigkeit ist demnach ein dominantes Equilibrium. Wenn wir lange genug spielen (und durch den Mythos über das Jenseits, der danach kommt, spielen wir ewig), ist Gerechtigkeit eine Notwendigkeit. Wenn diese Betrachtungsweise schlüssig ist, sind wir ganz nahe an der Verbindung zwischen dem gerechten Leben als individueller Entwicklungsperspektive und dem vorgeschlagenen Menschenpark (polemisch gesagt), um diese Perspektive zu forcieren.

Um langsam zum angeführten Daimon-Zitat zu kommen: Im Jenseits sieht Platon folgendes vor:

Die Seelen der verstorbenen Menschen kommen zu einer wundervollen Wiese. An diesem Ort befinden sich vier Löcher, zwei gen Boden (IN and OUT) und zwei gen Himmel (IN and OUT). Dazwischen sind Richter, die den Ankommenden ihr Urteil anheften:
"[D]iese hätten allemal, nachdem sie ihren Urteilsspruch getan, den Gerechten befohlen, den Weg rechts und durch den Himmel zu wandern, nachdem sie ihnen zuvor vorn ein Zeichen von beurteilten Taten angehängt; die Ungerechten aber hätten sie nach der Öffnung zur linken Hand, und zwar nach unten (unter die Erde), verwiesen, und auch diese hätten ihre Zeichen, aber hinten, anhängen gehabt über alles das, was sie verübt hätten." Schön geordnet: Links/Unten/Hinten vs. Rechts/Oben/Vorne.

Danach beginnt eine 1000-jährige Reise, die angenehm für die Gerechten, unangenehm für die Ungerechten ist. Am Ende kommen sie durch die OUT-Löcher wieder heraus. Die ganz argen Fälle der Ungerechtigkeit aber (Tyrannen, etc.) kommen durch die rechte untere öffnung nicht leicht heraus; wenn sie es versuchen, ertönt ein unangenehmes Geräusch und es kommen Wächter herbei, die die Person zurechtweisen (ich würde sagen: brutal prügeln. So geht es also im Jenseits zu. Interessanterweise sind die brutalen Ausführungen an dieser Stelle in Anführungszeichen gestellt, zumindest in den Versionen, die ich gelesen habe.)

Am Ende treffen sich die Seelenwieder auf der Wiese und tauschen ihre positiven und negativen Erfahrungen aus. Nun gehen sie zur "Spindel der Notwendigkeit", ein seltsamer Webe-Mechanismus, den ich nicht ganz verstehe, der sehr detailliert geschildert wird. Der Kuriosität wegen ist dieser Abschnitt in voller Länge zitiert:
"Nach einer Tagreise wären sie nun da hineingekommen und hätten dort mitten in jenem Lichte gesehen, wie die äußersten Enden der Himmelsbänder am Himmel angebracht seien; denn nichts anderes als jener Lichtstreif sei das Land des Himmelsgewölbes, wie etwa die verbindenden Querbänke an den Dreiruderern, und halte so den ganzen Himmelskreis zusammen; an jenen Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit angebracht, durch welche Spindel alle möglichen Sphären bewegt würden; daran seien nun Stange und Haken aus Stahl, der Wirtel aber habe aus einer Mischung von Stahl und anderen Metallarten bestanden. Die Beschaffenheit dieses Wirtels sei nun folgende gewesen: Die äußere Gestalt sei so gewesen, wie sie der Wirtel bei uns hat; man muß sich jedoch seiner Erzählung nach ihn so vorstellen, als wenn in einem großen und durch und durch ausgehöhlten Wirtel ein anderer eben solcher kleinerer eingepaßt wäre, so wie man Gefäße hat, die in einander passen; und auf dieselbe Weise muß man sich noch einen anderen dritten, vierten und noch vier Wirtel ineinander gepaßt denken. Denn acht Wirtel seien es insgesamt, die ineinander lägen und ihre Ränder von oben her als Kreise zeigten und um die Stange nur eine zusammenhängende Oberfläche eines einzigen Wirtels darstellten; jene Stange sei aber durch den achten mitten ganz durchgezogen. So habe nun der erste und äußerste Wirtel den breitesten Randkreis, der sechste den zweiten, den dritten der vierte, den vierten der achte, den fünften der siebente, den sechsten der fünfte, den siebenten der dritte, den achten der zweite. Der des größten Wirtels sei nun buntfarbig, der des siebenten am glänzendsten, der des achten erhalte seine Farbe von der Beleuchtung des siebenten, der des zweiten und fünften seien einander sehr ähnlich und zwar gelblicher als jene, der dritte habe die weißeste färbe, der vierte sei rötlich, der zweite aber übertreffe an Weiße den sechsten. Wenn nun so die ganze Spindel sich herumdrehe, so kreise sie zwar in demselben Schwünge; während des Umschwunges des Ganzen aber bewegten sich die sieben inneren Kreise langsamer, in einem dem Ganzen entgegengesetzten Schwünge. Am schnellsten von ihnen gehe aber der achte; den zweiten Rang der Schnelligkeit hätten zugleich mit einander der siebente, sechste und fünfte; den dritten im Umschwünge, wie es ihnen geschienen, habe der vierte Kreis gehabt; den vierten der dritte, und den fünften der zweite. Gedreht aber werde die Spindel zwischen den Knieen der Notwendigkeit. Auf ihren Kreisen aber säßen oben auf jeglichem eine sich mit umschwingende Sirene, welche eine Stimme, jedesmal einen zum Ganzen verhältnismäßigen Ton, hören läßt: aus allen acht insgesamt aber erschalle eine Harmonie."
An diesem Ort befinden sich auch noch "die Töchter der Notwendigkeit", Lachesis für die Vergangenheit, Klotho für die Gegenwart und Atropos für die Zukunft. Sie interagieren mit dieser Spindel, ebenfalls nach einer bestimmten Ordnung. Als Moderator tritt ausserdem noch "ein Prophet" hinzu, der die Seelen "in eine Reihe" stellt. Die Daimon-Stelle wird von Lachesis ausgesprochen: "Es spricht die Jungfrau Lachesis, die Tochter der Notwendigkeit: Eintägige Seelen! Es beginnt mit euch eine andere Periode eines sterblichen und todbringenden Geschlechts; nicht euch erlost das Lebensverhängnis, sondern ihr wählt euch das Geschick. Sobald einer gelost hat, so wähle er sich eine Lebensbahn, womit er nach dem Gesetze der Notwendigkeit vermählt bleiben wird. Die Tugend ist aber unabhängig von jedem Herrn: von ihr erhält ein jeder mehr oder weniger, je nachdem er sie in Ehren hält oder vernachlässigt. Die Schuld liegt an dem, der gewählt hat. Gott ist daran schuldlos."
Dann geht das Verfahren los. Man zieht Lose. Jeder bekommt eines. Auf dem Los steht eine Zahl. Die Zahl beschreibt die Stelle in der Warteschlange. Die Warteschlange wovon? Von der Möglichkeit, seine Lebensweise zu wählen. Nachdem nämlich jeder sein Los gezogen hat, veröffentlicht der Prophet eine Vielzahl an Lebensweisen, "in weit größerer Anzahl als die der Anwesenden. Da hätte es denn allerlei gegeben: Lebensweisen von allen Tieren und auch, versteht sich, alle menschlichen. Darunter hätten sich nun unumschränkte Tyrannenherrschaften befunden, zum Teil lebenslängliche, zum Teil auch solche, die mitten im Leben verloren gehen und mit Armut, Verbannung und mit dem Bettelstab endigen. Auch hätten sich darunter befunden Lebensweisen von wohlangesehenen Männern teils durch Gestalt, Schönheit und außerdem durch körperliche Stärke und Kampftüchtigkeit, teils ihrer Geburt und der Vorzüge ihrer Ahnen wegen; ferner ebenfalls Lebensweisen solcher, die in den genannten Rücksichten unansehnlich waren, und ebenso habe es sich mit den Weibern verhalten. Eine Seelenrangordnung habe aber nicht dabei stattgefunden, weil es eine unbedingte Notwendigkeit ist, daß eine Seele, welche eine andere Lebensweise wählt, auch eine andere wird. Im übrigen seien die Lebensweisen durcheinander gemischt und teils mit Reichtum oder Armut, teils mit Krankheit, teils mit Gesundheit verbunden; manche lägen auch zwischen den genannten Zuständen in der Mitte."

Hier springt Platon aus dem Mythos zu einer Meta-Bemerkung, indem er unterstreicht, wie wichtig es ist, sowohl im Jenseits als auch im Diesseits die richtige Lebensweise zu wählen (die in jedem Fall eine Position in der Mitte ist). Für Platon gilt diese Suche als die höchste Priorität im Leben und in den Wissenschaften. Man muss alles daransetzen, dass "jeder von uns mit Hintansetzung aller anderen Wissenschaften" diese Unterscheidung kompetent treffen kann. Darauf folgt, so wie ich es lese, eine bemerkenswerte Stelle, in der Ideale und unsere aktuelle Lebenssituation aufeinander bezogen werden. Denn üblicherweise läuft unser Leben nicht so glatt, wie wir es von Idealen (oder auch von Paradigmen) kennen. Oder anders gesagt: Man hat Stärken und Schwächen. Die sind nun in Balance zu bringen mit der Wahl seiner Lebensweise. Es geht um die Geschicklichkeit, "aus den jedesmal wählbaren [Möglichkeiten] überall die bessere herauszuwählen, dabei auch wohl in Anschlag zu bringen alle unsere obigen Lehren, gegenseitige Vergleichungen und Bestimmungen in bezug auf die vorzügliche Lebensweise; ferner zu wissen, was Schönheit, mit Armut oder Reichtum gemischt, tut, und bei welcher Beschaffenheit der Seele sie Gutes oder Schlimmes bewirkt; was ingleichen edle Geburt und niedere Abkunft, was stille Zurückgezogenheit und Staatsbeamtenstand, was körperliche Kraft und Schwäche, was Gelehrtheit und Ungelehrtheit, was für Wirkungen überhaupt dergleichen ursprüngliche Eigentümlichkeiten der Seele und ihre dazu erworbenen Eigenheiten tun, wenn sie mit einander vermischt werden. Und so kann man erst nach Erwägung aller dieser Umstände imstande sein, mit Berücksichtigung der eigentlichen Natur der Seele bei seiner Wahl die schlechtere und bessere Lebensweise zu unterscheiden und dabei diejenige einerseits die schlechtere zu nennen, welche die Seele dahin bringt, daß sie ungerechter wird, die bessere andererseits diejenige, die sie immer mehr gerecht macht. Um alles übrige wird man dabei sein Herz unbekümmert lassen; denn wir haben gesehen, daß dies sowohl für das Leben als auch nach dem Tode die beste Wahl ist." Anstatt das Schicksal oder Gott anzuklagen, dass sein Leben nicht so wie gewünscht läuft, soll man "in sich" gehen und überlegen, wo man einen Fehler in seiner Lebensweise gemacht hat.

Zurück im Jenseits. Nachdem die Seelen (Tiere und Menschen übrigens) ihre Wahl (meist durch Gewohnheit aus ihrem früheren Leben vorgezeichnet) getroffen hatten, sind sie zur Lachesis gegangen. Was jetzt passiert ist Präkonfiguration der gewählten Lebensweise in den Weltenlauf. Lachesis (Vergangenheit) gibt jeder Seele nun "den Genius der von ihm erwählten Lebensweise zum Beschützer seines Lebens und zum Vollstrecker seiner Wahl" mit. Klotho (Gegenwart) "befestigt" die Wahl in der Spindel der Notwendigkeit und Atropos macht die Wahl unveränderlich.
Am Ende müssen die Seelen aus dem Fluss "Sorgenlos" trinken, um zu vergessen. Je nachdem, wieviel man trinkt, vergisst man seine Wahl im kommenden Leben, in der nächsten Runde sozusagen. Wenn du klug bist, trinkst du weniger.
Und das scheint nun ein iterativer Prozess zu sein. Das Ziel ist: absolute Gerechtigkeit zu implementieren.--Andyk 20:40, 7. Dez. 2010 (UTC)

Role Models

  • Inwiefern sind "High Potentials" Role-Models? Verhält sich das analog zu den Heiligen? (to be continued)