Bildung und Datenbanken (Vorlesung Hrachovec, Sommer 2009)/Zusammenfassung

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fecit Fabbaz 17:21, 27. Apr. 2009 (UTC)

"Schön" ist nicht schön.

Das letzte Mal hat es im Anschluss an meine Vorlesung eine kurze, aber dafür auch engagierte und ein bisschen polemisch gedrehte Diskussion gegeben, wegen einer Bemerkung, die ich gemacht habe. Dank der technischen Möglichkeiten, derer wir uns hier bedienen, kann man ganz genau nachschauen, was ich da wirklich gesagt habe. Es gibt schon das Transkript der 3. Vorlesung von einem Kommilitonen der "Bananenfisch" heißt. Stein des Anstoßes war meine Darstellung, wenn es in der platonischen Gedankenführung darum geht, die Erkenntnis als etwas zu beschreiben, was bei den Praktiken von schaulustigen Menschen beginnt, die ganz einfach neugierig und unkontrolliert in einer Weise in der Welt herumschauen. Wenn es dann darum geht, dem eine Richtung zu geben, auf Wahrheit, auf begriffliche Definition, dass dann eine ganz besondere platonische Strategie greift, nämlich dass er sagt "Wir sind auf dem Weg der Erkenntnis dazu, das Schöne, das Wahre, das Gute ins Auge zu fassen" - das habe ich ein bisschen genauer ausgeführt, und inwiefern das problematisch erscheint. Die platonische Strategie, die hier zu nennen ist, ist die, dass Platon nicht nur einfach sagt, erstens: "Es gibt schöne Dinge, die man sehen kann", Dinge die man als schön qualifizieren kann. Zweitens kann man "als schön" qualifizieren. Man hat eine gewisse Kompetenz, um zu sagen "gefällt mir, gefällt mir nicht, ist schön, ist nicht schön". Das dritte aber, und das ist der Punkt, wo es kritisch wird, ist wo ich fragen kann "Welche Kenntnis habe ich, wie komme ich dazu etwas als schön zu qualifizieren, eine Kompetenz zu haben im Umgang mit dem Begriff 'schön'?" In unserem Verständnis ist der Begriff "schön" nicht das, was ein schönes Ding darstellt, sondern etwas, was man verwendet um zu qualifizieren wenn Dinge schön sind. Also "Begriff" steckt hinter diesem "ist schön". Es ist schön, als Prädikat, als Aussage, muss irgendwo gesteuert, gehalten werden von einem Verständnis des Umgangs mit diesem Sprachausdruck - das Naheliegendste ist, das als Begriffsverständnis zu bezeichnen. Man versteht, was es ist, was es heißt, schön zu sein. Und da nun ist die besondere platonische Vorkehrung, dass er, an mehreren Stellen, sagt, "Naja, das 'Schöne' ist diejenige Konstruktion, diejenige Entität, die selbst am allerschönsten ist. Das Schönste vom Schönen ist das Schöne. Der Begriff des Schönen hat eine Eigenschaft, die ihn dazu qualifiziert, alles andere Schöne zu bestimmen, und diese Eigenschaft ist, dass er der Inbegriff des Schönen ist. "Inbegriff des Schönen" ist noch eine neutrale Formulierung, was, sprachanalytisch betrachtet, dahinter steht, ist, dass man das Prädikat "ist schön", das man normal mit Hilfe eines Verständnisses des Wortes "schön" legitimiert, auf das, was hinter dem Prädikat steht, nämlich die Kompetenz zum Begriffsgebrauch, dass man den Begriff schön selber noch einmal anwenden kann. Dass man also sagt, das "Schöne" ist selbst schon das Schönste.

Sie können sich jetzt an den Zusammenhang erinnern, an dieser Stelle habe ich gesagt - zugegebenermaßen mit einem gewissen emotionalen Point - dass das aus der Sicht des Sprachanalytikers lächerlich ist und darauf hingewiesen, dass wir, wenn ich das ganze noch einmal durchführen würde mit der Praxis des Wortes "ist braun", Sie vermutlich übereinstimmen würden, das der Begriff braun, wenn ich diese Abkürzung verwenden darf, nicht selber braun ist, sondern das ist irgendetwas anderes, das uns in die Lage versetzt, zu sagen wenn etwas braun ist. Da geht etwas sehr Sonderbares vor, und nicht nur das, ich stehe zu der kleinen emotionalen Spitze, die in dem "lächerlich" drinnen steht. Ein Kollege oder eine Kollegin haben das zum Anlass genommen, in der Diskussion, die durchaus einschlägige und wichtige Frage zu stellen, was es denn mit dieser Platoninterpretation auf sich hat. Es ist tatsächlich, wenn ich das so sage, und es war auch so gemeint, ein Affront gegen Platon, gegen ein nichtdenkendes Nachsprechen dieser platonischen Formeln, nur weil Platon es gesagt hat, müssen wir es noch nicht glauben. Ich hab mich mit diesen Einwänden ein bisschen genauer auseinandergesetzt, in Zusammenhang mit dem Begriff "ist schön" und möchte ein, zwei Hinweise geben dafür, Sie können es ja selber dann auch noch genauer nachlesen und vielleicht auch kommentieren. Das Ding ist deswegen Anlass für einen, mir scheint berechtigten, emotionalen Druck, weil es mit einer Sache zu tun hat, die ganz genau in das Thema unserer Vorlesung passt und daher von mir auch so platziert worden ist, und das würde ich so beschreiben: Wenn man schwarzweiß malt (was ja nicht problemlos ist) und davon ausgeht, dass es eine Trennung des Menschengeschlechtes gibt, zwischen den Schaulustigen, die in der Welt der Dinge verhaftet sind und den anderen, Philosophie studierenden, die höhere Ansprüche haben, die Suche nach Wahrheit im Blick haben, dann hat man eine argumentative Schwierigkeit vor sich, das ist klar, nämlich: wie verhält sich das beides zueinander? Wie, wenn ich das Schöne, das Wahre, das Gute als Zielbestimmung für die Erkenntnissuche in der Philosophie definiere, wie verhält sich das, was die Philosophinnen gerne wissen wollen zu dem, wenn der Rest der Welt sagt "gefällt mir, gefällt mir nicht"? Das ist, auch das habe ich schon gesagt, das Problem der Teilhabe, der μέθεξις, wie kommt es von diesen hochgestellten Positionen auf den Rest der Welt? Und die Pointe dieser sogenannten Selbstaussage (engl. selfpredication): Die Selbstaussage des Prädikats schön, auf sich selbst angewendet, der Begriff "schön" ist schön, was ist damit gemeint, welches Signal wird damit gegeben? Damit ist eine sprachliche Klammer formuliert, die zwischen denen, die eine Kenntnis des Schönen haben, und denen, die "nur" wissen, was schöne Dinge sind, eine praktische Verbindung herstellt, nämlich sind sie beide Gebrauchspersonen, beide brauchen das selbe Wort, beide haben eine Kompetenz im Umgang mit Schönem, nur dass die einen das besonders Schöne wissen. Die Kompetenz des Schönen, das die Philosophinnen ansprechen, ist die Kompetenz des Schönsten, vorbildlichen Schönen - die anderen haben eine etwas geringere Kompetenz des Schönen, sofern es auf die schönen Dinge angewendet wird. Die Zusammenstellung von dieser Idee mit dem Thema der Vorlesung ist jetzt die, dass wir, menschenfreundlich wie wir sind, vor Augen haben, dass der Weg von den schönen Dingen zu DEM Schönen nicht nur für eine erlesene Minderheit, sondern für alle Leute offensteht, und wenn das der Fall ist, ist das genau die Definition des Bildungsprozesses. Das ist genau die παιδεία, in die Lage versetzt zu werden das Schöne zu erkennen, in einem Sinn, der noch immer nicht ganz klar ist, im Gegensatz zu schönen Dingen. Und wenn man damit Schwierigkeiten hat, mit dem was ich gerade wiedergegeben habe, dann ist eine Möglichkeit in diese Schwierigkeit einzusteigen, darauf hinzuweisen, dass das sprachlich nicht ganz unproblematisch ist, wie ich anfangs versuchte deutlich auseinanderzunehmen, dass man die Kompetenz, die bestimmte Personen haben, bestimmte Begriffe zu verwenden, und zu qualifizieren, in die selbe Betrachtungsweise mit hineinnimmt wie die Resultate dieses Kompetenzgebrauchs.


von E-Mails, Schafen und dem Urmeter

Als kleinen Hinweis auf eine fachinterne Debatte des wissenschaftlichen Platonismusdiskurs: diese von mir dargestellte Sonderbarkeit ist natürlich reichhaltig diskutiert worden, sowohl im angloamerikanischen als auch im deutschen Sprachbereich, man hat sich gefragt wie jemand dazu kommt, eine solche Konstruktion zu machen. Ich will dazu zwei Punkte sagen. Erstens, dass es tatsächlich Umstände gibt, unter denen die genannte Sprachstrategie vollkommen selbstverständlich ist. Zwei schöne Beispiele: Stellen Sie sich E-Mails vor, Sie haben eine, zwei, drei E-Mails, die sind unterschieden, unterschiedliche E-Mailsendungen. Dann ist es aber so, dass Sie durch mehrfache Weiterleitungen und Antworten ein Gebilde zusammenklicken, dass man eigentlich nur so beschreiben kann, dass es mehrere E-Mails sind - die, die sie bekommen haben, und die letzte davor, und die letzte vor dieser. Diese mehreren E-Mails schicken Sie ihrerseits weg - simpel und klar: nicht nur eine E-Mail, sondern auch mehrere E-Mails können eine E-Mail sein.

Sheep NZ.JPG

Das zweite Beispiel: Sie gehen am Land spazieren, und sehen mehrere kleine Herden von, sagen wir, Schafen, und Sie treiben diese mehreren kleinen Herden von Schafen zusammen, und dann haben Sie selbst eine Herde. Das heißt, Sie können die Mengen, von denen Sie hier ausgehen, und Sie erhalten eine Menge, die selbst und zu recht das Prädikat der Mengen hat, von der Sie ausgegangen sind.

In anderen Fällen funktioniert das nicht, wenn Sie beispielsweise mehrere Häuser haben, und Sie stellen, oder rücken, diese Häuser zusammen, dann haben Sie die Summe der mehreren Häuser, und die ist nicht selbst ein Haus. Hier ist also im ganz normalen Zusammenhang schon ein Hinweis darauf, dass das auch anders funktionieren kann. Eine Möglichkeit, die man bei Platon ansetzen kann und wie das auch erklärt wird, damit ich die "Lächerlichkeit" ein bisschen zurücknehme: es ist doch nicht ganz so lächerlich, denn was ist da passiert? Platon hat diese Gebräuchlichkeit von - E-Mails hat er noch nicht gehabt, aber die Möglichkeit, dass man einer solchen Konglomeration, Agglomeration: alle schönen Dinge zusammen sind selbst wie zu beschreiben? Na, beschreiben wir sie als, noch einmal, schön. Und weil es alles zusammen ist, dann nicht einfach nochmal schön, sondern, wie gesagt, den Inbegriff des Schönen.

"Internationaler Meterprototyp, Standardbarren aus Platin-Iridium. Dies waren die Längennormale bis 1960", weiß die deutsche Wikipedia

Der zweite Hinweis, der auch aus der Fachdiskussion kommt, und auch auf das hinweist, was uns in weiterer Folge noch deutlich interessieren wird: Bei Platon liegt eine gewisse Verwechslung vor, die man, das habe ich in meiner Diskussionsbemerkung angedeutet, am besten mit einem berühmten Beispiel aus den philosophischen Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein illustrieren kann, nämlich die Diskussion des Urmeters in Paris. Mittlerweile wird nicht mehr mit kleinen Stäben, sondern technisch vieles raffinierter gehandhabt, aber nehmen wir einmal an, wir sind noch hundert Jahre früher, in Paris, in einem klimasicheren Raum ist ein bestimmter Stock zu finden, das Urmeter. Das hat diejenige Länge, die für sämtliche Metermessungen vorbildlich ist. Wenn man nun überlegt - und das ist Wittgensteins Pointe - ergibt sich eine sehr interessante Perspektive, wenn man sich überlegt ob das Urmeter ein Meter lang ist. Wie lang ist das Urmeter - ein Meter, oder nicht? Damit zeigt sich, das intellektuelle Potential und die ganz große, philosophische Pointe, in der wir da sind. Es gibt nämlich zwei Antworten darauf.

Einerseits kann man das rein faktisch ansehen, so wie wir es sehen, wenn wir Leute beobachten, die eine Praxis mit dem Urmeter haben - man muss dann sagen, dieser Stock ist ein physischer Stock, dieser hat eine bestimmte Ausdehnung, diese hat einen bestimmten Zahlenwert, und jetzt vergleiche ich das mit der physischen Ausdehnung von vielen anderen Stöcken, stelle fest, sie ist die selbe, dann benennen wir es eben, "ein Meter", dann ist die Antwort klar, der Urmeter in Paris hat die Länge von all den anderen Stöcken, und diese Länge nenne ich "Stöcke, die einen Meter lang sind".

Andererseits ist man geneigt zu bemerken, dass das Wichtigste übersehen wurde, nämlich dass in dieser fiktiven Konstruktion jemand kommt, und anhand dieses Stocks einen anderen vergleicht, und daraus die Folge zieht, dass der Stock untauglich ist und geändert, gestutzt, verlängert werden muss. Das ist der Moment der Vorschrift. Denn der Stock in Paris funktioniert nicht nur so, dass er eine Länge hat, sondern dass diese spezielle Länge des Stockes auch verwendet wird als eine Vorgabe dafür, wie man definiert, sozusagen einzuklagen, zu mahnen, was die Länge von anderen Stöcken ist. Das ist nicht etwas, was sie im ersten Durchgang sehen würden, dieses normative Moment, das damit auch gemeint ist, das per definitionem nicht ein Meter lang ist. Das geht überhaupt nicht.

Das normative Moment

Und jetzt kommt das gleiche wie bei dem anfänglichen Beispiel mit dem Schönen:

Die Aktion, die wir setzen, um zu definieren, was ein Meter lang ist, das "wir normieren, was ein Meter ist", diese Aktion ist nicht ein Meter, was nicht ausschließt, daher kommt ja die Pointe des Ganzen, das ein Gegenstand, dessen wir uns bedienen beim Durchführen unserer normativen Tätigkeit, dass der eine bestimmte Ausdehnung hat. Und das ist die von mir angesprochene Verwechslung, die bei Platon eine Rolle spielen könnte, dass er - in moderner Terminologie - den paradigmatischen Charakter, der in dem Normativen drin liegt, verwechselt hat mit einer stofflichen Instanz desselben. Das ist eine verständliche Verwechslung, in der wir noch immer komplett drinnen stecken: Wenn ich ein Plakat oder eine Illustriertenseite habe, zu denken: "Das ist ein schönes Auto", "Das ist ein schönes Pferd" oder was immer. Vieles vom Illustriertenwesen funktioniert genau so, dass Sie konfrontiert werden mit etwas, was einerseits ein bestimmter Anblick ist, das ist ein schönes Pferd - was ist ein schönes Pferd? Es ist nicht nur eines von vielen, die als schön qualifiziert werden, sondern in die Illustrierten kommen genau die vorbildlichen Pferde, die, von denen man leicht glaubt und akzeptiert, dass sie schöne Pferde sind. Es gibt also immer den Moment, das ist nicht nur ein schönes Ding, sondern auch maßstäblich für "schön" - diese Illustriertenbilder, sofern sie gut verkauft werden sollen, müssen maßstäblich für "schön" sein.

Die Frage, in die wir da hineingeraten, warum ich hier auch noch ein bisschen insistiere und schürfe, ist, dass für diese Illustriertenbilder nun das selbe zu sagen ist, wie ich im Zusammenhang mit Platon gesagt habe. Und ich sage es hier mit der selben emotionalen Angespitztheit: es ist eben lächerlich, zu glauben, dass ein spezielles Bild in der Illustrierten schön ist, nur deswegen, weil es uns vorgesetzt wird als ein Beispiel von etwas schönem. Wir müssen diesen Unterschied machen zwischen der Normativitätsfunktion und der Exemplifizierungsfunktion, auch und gerade dann, wenn wir wissen, dass das Normative und das Exemplifizierte - am Beispiel von Models, am Beispiel von Urmeter - zusammen in einem Ding vorkommen. Damit will ich es jetzt hier bewenden lassen.

Bisher habe ich noch nicht viel über Datenbanken gesagt, es wird heute auch noch nicht so weit sein, es ist in Aussicht. Um das einzuleiten werde ich, und diese Debatte war für mich ein Grund, ein kleines Zwischenkapitel einzuschieben, wo ich nocheinmal auf eine andere Platonstelle eingehe, damit nicht der Eindruck entsteht, dass ich Platon allzusehr entfremde, und damit sie aus der Politeia zwei längere Passagen kennenlernen, in denen die Interpretation, die ich vorhabe, fundiert ist. Die erste ist eine Stelle aus dem siebte Buch, die inhaltlich sehr an das, was ich bisher dargestellt habe, anschließt und die insbesondere das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und der Verstandestätigkeit unter dem Zeichen des Dualismus nocheinmal sehr plastisch macht. Ich werde dann an diese Interpretationen von Platon eine Interpretation des Bildbegriffs und des Umgehens mit logischen Formen im "Tractatus" anschließen, sofern ich heute noch dazu komme, und hoffe Ihnen dann zu zeigen, wie eng zusammen, und an bestimmten, entscheidenden Stellen aber auch disjunkt diese beiden Konstruktionen sind.

Höhlengleichnis und Truman

Das siebte Buch der Politeia ist das mit dem Höhlengleichnis, das ich mir jetzt spare. Ich weise Sie darauf hin, dass ich im Zusammenhang mit meinem Projektseminar ein paar Clips gesammelt habe, auf diese Adresse. Die Höhlengleichnis eignet sich hervorragend für Homevideoproduzentinnen, wie man sich vorstellen kann. Es gibt, nach meiner Wahrnehmung, sehr viele Trashhöhlengleichnisvideos in Youtube, ich habe Ihnen einige nichttrashige, ganz interessante zusammengestellt. Ich werde das aber nicht weiter hier verfolgen, sondern werde Ihnen eines zeigen, das garnicht explizit etwas mit dem Höhlengleichnis zu tun hat, aber eine zeitgenössische, sehr interessante Paraphrase für wichtige Aspekte des Höhlengleichnisses ist, nämlich die Truman Show von Peter Weir. Eine Person, die mehr oder weniger festgekettet ist in der Unterhaltungsindustrie, in einer Realityshow, die mit seinem Leben zusammenfällt. Truman, der in dieser Narration vor der Aufgabe steht, auch das ist schon interessant, wieso sagt man, er steht vor der Aufgabe, er ist damit konfrontiert, dass da irgendetwas in seinem konstruierten Realityshowleben nicht stimmt. Ich zeige Ihnen eine kleine Episode, die markiert, worum es da geht. Sie haben hier eine Person sitzen am Strand, Truman, und plötzlich findet er sich in einem Regenkegel, läuft raus: trocken. Er wundert sich, der Kegel folgt ihm - Truman läuft nocheinmal raus, jubiliert "Oh, was ist jetzt passiert, ein Wahnsinn", da ist nochmal der Kegel, und dann die gesamte Regenlandschaft. Das ist in der Filmerzählung so angelegt, dass noch bevor man weiß, was da eigentlich los ist - man sieht die Sache als eine Story zusammen mit Truman - dass in der Wahrnehmung des Zuschauers auf einer zweiten Ebene, aber auf der ersten Ebene von Truman gezeigt wird, etwas auftritt, was sonderbar ist. Truman hat zu diesem Zeitpunkt keine Begriffe darüber, in welcher Situation er sich befindet. Entscheidend ist in all diesen Fällen die Trennung der Welt in Unten und Oben, die wir Zuschauer zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht ganz kennen, aber als Interpretationshorizont ist es notwendig: Wir finden uns in einer sinnlichen Wahrnehmungssituation, in der etwas sonderbare Dinge auffallen. Warum ich diesen Einschub mache, ist weil ich, ganz notgedrungen, um erklären zu können, worum es da geht, das Wort "sonderbar" verwendet habe. Das ist etwas sehr entscheidendes an dieser Stelle. Es lässt sich ein Zustand denken, ja in den meisten Fällen sind wir selbst in einem solchen Zustand, wo das nicht sonderbar ist. Wenn jemand nicht weiß, was mit ihm da passiert, ich sag das gleich mal ganz ungeniert, dass ein großer Zampanò jenseits der großen Kuppelkonstruktion sitzt, und auf einem computergesteuerten, hochraffinierten Schaltpult das Wetter für den Herrn Truman steuert, wenn wir das nicht wissen, sondern wenn wir hineinsozialisiert sind, so wie er, in einen Ablauf von sinnlichen Erfahrungen, dann ist das zunächst einmal nicht sonderbar. Wenn Truman als Kind die Erfahrung macht, dass hin und wieder ist es halt so, dass dieser große Computerapparat ein bisschen eine Outtime bzw. ein Breakdown hat, und Regengüsse mal ein bisschen so unangesagt und sozusagen strahlförmig auftreten, es aber rundherum nicht regnet, wie soll er, wenn er das erste Mal in seinem Leben mit Regen Erfahrungen macht, und dies Teil seiner Regenerfahrung ist, wie soll er sagen, dass das für ihn etwas besonderes ist? Er kann das nicht sagen, er bräuchte dazu einen anderen Referenzrahmen, der uns natürlich hier sehr leicht eingängig ist, weil wir einen Standard von Regen vorraussetzen, der nicht so ausschaut, dass am Strand, in der schönen Breite des Abendmondes, eine Person sitzt und man dann einen schmalen Kegel von Regen auf diese Person gerichtet sieht, da sagten wir "da ist doch irgendetwas nicht ganz sauber". Wir sagen das aufgrund von Distinktionen, die wir machen, die uns leicht fallen wenn wir wissen, dass es da den großen Regisseur im Hintergrund gibt, aber wie sollten wir das wenn wir in der Sache selber drinnen sind? Das ist, auf eine moderne Art und Weise, die Problematik des Höhlengleichnisses. Das gefesselte, entfesselte, Licht und Schatten, Bildmaterial kann man sich da eigentlich sparen und sagen, worum es geht: eine kognitive Dissonanz, die innerhalb einer Wahrnehmungs- und Sinneswirklichkeit auftritt. Wir nehmen Regularitäten wahr, sind diese in unserer sinnlichen Welt gewohnt, und irgendwann drinnen passt etwas nicht mehr. Wir sind konfrontiert damit, dass das Wasser anders funktioniert, als wir es bisher gehabt haben und stehen vor der Frage, was wir jetzt damit sollen. An vielen Stellen, wenn beispielsweise das Auto plötzlich zu klopfen anfängt, gibt es einfache Antworten: Achtung Gefahr, an den Straßenrand fahren, weil etwas passiert ist. Das ist eine solche Dissonanz. Es gibt aber auch, und das ist die Pointe hinter diesem Jubelgestus, den Truman macht, die Logik, die Entwicklung aus einer solchen Dissonanz, dass man sagt: "Hier habe ich einen Widerspruch entdeckt, da ist etwas dahinter, was mir Probleme bereitet, was ich hier jetzt gesehen habe führt mich zu etwas. Der Widerspruch lässt mich etwas erkennen." Man muss dazu wissen, dass Truman schon im Verlauf des Filmes einen Verdacht geschöpft hat. Es gibt da auch so eine Szene, wo er sich fragt, wie es das eigentlich geben kann, dass er immer vorhersagen kann, welche Leute da in regelmäßigen Abständen die Straße entlang gehen. Der Grund ist, dass das die für die Realityshow notwendige Staffage ist, die normiert ist und solche regulären Zyklen braucht. Auch hier ist es so: so wie er sozialisiert worden ist, muss es einen Grund geben, dass ihm das komisch vorkommt. Er muss eine Auffassung davon haben, dass die ewige Wiederkehr des gleichen nicht ganz das ist, was menschliches Leben bedeutet. Die Regenszene zeigt eine Bestätigung seines Verdachts, das kognitive Moment, dass er an der Stelle hat, er jubelt, weil draufgekommen ist, dass in seiner Erfahrungswirklichkeit ein Widerspruch ist. Und meine Filmdeutung, meine filmische Illustration von dem, was Platon in der ausgewählten Passage tut, er spricht genau von dem Verhältnis zwischen sinnlichem Wahrnehmen und Widerspruch. Und die Pointe ist, dass man durch die Augen keinen Widerspruch wahrnimmt. Weder Augen noch Ohren, kein Sinnesorgan ist von der Art, dass sie dadurch Widersprüche wahrnehmen. Sie sagen zwar "da sehe ich aber einen Widerspruch" - dazu kommen wir gleich - das ist wieder die gleiche Problemstellung. Sie sehen keinen Widerspruch, zumindest nicht in dem Sinn, in dem sie einen Wasserkegel sehen. Sie sehen, dass es einen Widerspruch zwischen dem einem und dem anderen Satz gibt. Sie sehen eben nicht den Widerspruch, sondern sind konfrontiert mit einem Satz "Hier kommt der Regen als Kegel" und "Hier kommt der Regen als flächendeckend" und dann haben Sie eine Theorie darüber, wie Regen sich zeigt, sich auswirkt, und Sie "sehen", dass es zwischen diesen beiden Sätzen einen Widerspruch gibt. Das ist, was hier eigentlich stattfindet. Diese Formulierung "sie sehen" ist vergleichsweise harmlos, was Sie nämlich in Wirklichkeit tun ist folgendes: Sie sehen den einen Satz, sehen den anderen Satz, verstehen den Inhalt des einen und verstehen den Inhalt des anderen Satzes, und dann vergleichen Sie die Inhalte dieser beiden Sätze und stehen dann vor der Frage, würden Sie den beiden Sätzen zustimmen? Und Sie sagen "Nein. Diese beiden Sätze gehen sich zusammen nicht aus. Regen, so wie ich ihn verstehe, ist nicht gleichzeitig das, was in dem Kegel kommt, und das, was in der Breitwand kommt. Das ist Ihr Umgang mit dem Widerspruch, der da drin ist. Es ist klar, worauf ich hinaus möchte, und worauf auch Platon an dieser Stelle hinaus möchte, dass der Zusatzfaktor der in Ihre sinnliche Wahrnehmung hineinspielt, damit Sie zu so etwas kommen wie Widersprüchlichkeit. Und ich erinnere Sie: diese Widersprüchlichkeit ist natürlich der Anfang vom Ziel. Der Anfang vom Ende im Sinn des pädagogischen Prozesses - nur wenn Sie an dieser Stelle Widersprüche sehen, werden Sie unruhig werden und auf den Weg der Erkenntnis kommen. Dieses Hineinspielen des Widerspruchs nicht in der Sinnlichkeit ist, sondern dass das aus der νόησις (gr. Einsicht) kommt, aus dem Verstand, wenn Sie so wollen. Er hat hier eine Unterscheidung zwischen sinnlichen Wahrnehmungen, die das Denkvermögen garnicht zur Betrachtung auffordern: man lebt, und denkt sich nichts dabei. Muss sich nichts dabei denken. Und dann gibt es sinnliche Wahrnehmungen, die das Denkvermögen zum Einschreiten auffordern, das eine sind die τὰ μὲν ἐν ταῖς αἰσθήσεσιν οὐ παρακαλοῦντα τὴν νόησιν - nicht hervorrufend das Erkenntnisvermögen, und dann diejenigen, "halten das Denkvermögen ganz besonders an,... dem Prüfstein des Denkens zu unterwerfen", ἐπισκέψασθαι, da steckt Skepsis drinnen, Sehen, Denkvermögen. Das ist ein anderer Typus von Wahrnehmung, der nämlich das Denkvermögen provoziert. Sie werden sich jetzt natürlich fragen, wie es zu dieser anderen Form von Wahrnehmung kommt. Da haben wir jetzt wieder einen entscheidenden Punkt im pädagogischen Prozess von Platon: wenn die beiden Bereiche, der Schaulustigen und der Wahrheitssuchenden, sich einfach trennen würden, wie in den von mir in der vergangenen Stunde interpretierten Textstücken, dort habe ich Ihnen etwas unterschlagen. Es gibt, sehr umstritten in der Interpretation, eine Stelle wo Platon in etwa sagt: "die Ausrichtung auf das Erkennen und das Wahre und das Gute ist so etwas wie wach sein, alle anderen - diese Schaulustigen - sind eigentlich Träumer." Also eine Disjunktion zwischen Traum und Wirklichkeit, das sind verschiedene Welten, und die sich im Traum befinden kommen nie in die Wirklichkeit, und die im wahren Zugang zu den Ideen sind, sind diejenigen, die wissen, worum es geht. Wir wissen mittlerweile um die raffinierten Interaktionen zwischen Traum und Wirklichkeit, dass es also zwei Welten sind, die ineinanderrutschen. Dieses Ineinanderrutschen gibt es auch bei Platon selbst, weil wir - in seiner Seelenkonstruktion - Wesen sind, die gleichzeitig sinnlich agieren und sinnlich verankert und verstandesgemäß mit kritischen Fähigkeiten ausgestattet sind. Unter bestimmten Umständen kommen diese Wesen in eine Situation, in der sie ein Überlappen von Bedenklichkeit, von Unterscheidung und von Kritik auch innerhalb der Wahrnehmung erfahren. Das ist insofern ein komplett zentraler Punkt, da wenn es diese Fähigkeit nicht für menschliche Wesen gäbe, sich nämlich aus der Abhängigkeit von der Umgebung an bestimmten Stellen heraus zu nehmen, ein Bildungsprozess nicht möglich wäre. Und es ist auch klar, dass der elementare, instrumentale Ansatz davon, wie das geht, wie das sein kann, das "Ja"- und "Nein"-sagen ist. Das ist, einerseits sprachanalytisch, man kann das jedoch ziemlich sicher auch beispielsweise entwicklungspsychologisch argumentieren: wie brechen junge Lebewesen aus dem Kokon aus, in den sie in biologischer Abhängigkeit im genetischen Prozess eingebettet sind? Indem sie "Nein" sagen, eine Form von Verweigerung produzieren und einen Bruch setzen. Und dieser Bruch, als Bruch, in seiner Schroffheit ist das, was kultiviert und auf der Ebene der Begrifflichen Rekonstruktion wieder auftritt in der Sprachphilosophie, wenn man sagt "das wesentliche Unit davon, wenn man erklären will was es heißt, etwas - einen Ausdruck, etwas von der Welt - zu verstehen, ist unterscheiden zu können zwischen verschiedenen Zuständen. Um sie auseinanderhalten zu können muss man sie identifizieren. Das ist als per identificationem das miteinschließt, von dem ich das letzte mal gesagt habe "Eins, zwei, viele".

Wittgenstein und Platon. Was ist ein Finger?

Was beim Platon dadurch auftritt, dass er sagt es gibt die vielen Dinge, und im Gegensatz das Eine, das dadurch gekennzeichnet ist, dass es zu dem Einen genau ein Anderes gibt, das ist "schön"-"hässlich", "gerecht"-"ungerecht", "wahr" und "falsch". In der Passage heute macht er das auf eine Art und Weise, die ganz faszinierend ist und man kann die ganze Problemstellung in der schlichtesten Art und Weise nachvollziehen Sie merken schon, dass ich an dieser Stelle sehr viel mit Platon und Wittgenstein operiere. Und Wittgenstein ist normalerweise wahrgenommen und dargestellt als jemand, der in gewisser Weise Erzfeind von Platon ist, ja er selbst hat solche Äußerungen auch getan. Aber bei Platon finden sich gar nicht so wenige Passagen, die direkt aus den Philosophischen Untersuchungen kommen könnten, einer solche ist die, wo Platon sagt "schauen Sie einmal eine menschliche Hand an. Sie hat Finger. Wir sehen die Finger, wir kennen sie, wir operieren mit ihnen - no problem. Das ist eine Vielfältigkeit, die wir einfach haben, eine strukturierte Wahrnehmung. Wir sehen, dass was wir als Hand gebrauchen, eine Reihe von unterschiedlichen Features hat. Das ist das Viele. Was, wenn wir jetzt sagen, diese Hand hat aber fünf Finger, und einer von denen ist der größte? Und der eine ist bandagiert, oder gerade gebrochen." Das sind Betrachtungsweisen, aus denen Platon genau das, was ich Ihnen vorgestellt habe, herausholt, nämlich, unplatonisch formuliert: der identifizierende Verstand hat die Fähigkeit, in der Strukturmannigfaltigkeit eine Identifikation zu machen, indem er sagt "ist das ein Finger? Nein. Und das? Ja, ist ein Finger. Ist dieser Finger kleiner als dieser?" Man könnte so sagen: Sehen Sie, dass das kein Finger ist? Auch an der Stelle ist schon interessant, wenn ich das so sage: worauf beziehe ich mich mit dem "das"? Das diese Handfläche kein Finger ist? Sie sehen diesen Körperteil, die Handfläche, und dass das eine nicht das andere ist, nicht in diesem engeren Sinn. Die Konsequenzen aus dem können Sie sich selber hier durchsehen, ich glaube hier reicht einmal das im general outline vorgestellt zu haben. Worauf das bei Platon hinausläuft ist also, dass diese νόησις ein Vermögen der oppositionellen Verhältnisse ist, und dass die vergangene Stunde dargestellte Spannung zwischen "es gibt Sinneserfahrungen und Sätze, die eine innere Gestalt, Struktur haben. Da kommt etwas drinnen vor, da gibt es etwas zum Schauen. Darum sind es die Schaulustigen, die an der Stelle angesprochen sind." Und diese Struktur verschaltet mit der anderen Struktur des "Ja/Nein/Wahr/Falsch", urteilen, herausholen und dialektisch diskutieren (diese Konstellation wollte ich Ihnen bei Platon vor Augen führen).

Vernunft, der Ort des Widerspruches

Ich möchte noch anhand einer Übersetzung, die ich im Internet gefunden habe, also nicht der (korrekteren) Übersetzung von Schleiermacher, ein Beispiel bringen.

"Um also über diesen Widerspruch ins Klare zu kommen, muß auch seinerseits die Vernunft notwendig
ein Großes und  Kleines sich begrifflich vorstellen, nicht vermischt, sondern getrennt von einander,
gerade das Gegenteil wie der Gesichtsinn." Die Vernunft hat einen Zugang zum großen und kleinen,
der in diesem Sinn identifikatorisch ist, und freundlicherweise, weil uns diese übersetzer nicht
aufregen wollten, haben sie geschrieben "die Vernunft muss sich begrifflich vorstellen, das Große
oder Kleine."

Da steckt schon alles das drinnen, was ich ihnen mit Begriff und so weiter interpretatorisch gesagt hab. Wenn man sich den griechischen Fachterminus im Originaltext ansieht, stellt sich heraus, dass das keineswegs so freundlich ist. Hier steht nämlich "μέγα αὖ καὶ σμικρὸν ἡ νόησις ἠναγκάσθη ἰδεῖν". ἰδεῖν ist "SEHEN". Die Vernunft sieht an der Stelle das Große und das Kleine. Die νόησις ist an dieser Stelle natürlich kein sinnliches Sehen, und die Frage mit der wir uns in diesem Zusammenhang beschäftigen ist natürlich, wie das möglich ist, "sichtbar". Wie kann man das Große und das Kleine sehen, wie kann man diese Wortverwendung von Platon verstehen? Weil es ausgezeichnet passt gebe ich jetzt einen kurzen Vorwärtsflash für das, was ich Ihnen nächstens dann über Wittgenstein erzählen werde: Die klassische Erziehungs- und Bildungstradition hängt, wenn ich das zuspitzen darf, daran, dass "sehen" hier ein Gummibegriff ist. Man sieht die Sonne, die nicht nur das stärkste Licht ist, sondern die Bedingung für Licht, und die Bedingung dass wir überhaupt etwas sehen können. Und darum können wir das Verständnis von "sehen" und unseres Bildungsprozesses über diesen Gummibegriff "sehen" so anlegen, dass wir unten in der Höhle anfangen ein bisschen was zu sehen, dann oben das meiste. Und alles unter dem Aspekt des Sehens, und die Philosophinnen sind diejenigen, die dann im Wahrheit-sehen sind. Und exakt das ist was Wittgenstein abschneidet, indem er im Tractatus eine elementar platonische Struktur einer Trennung zwischen Formenwelt und sinnlicher Wahrnehmung bewahrt. Er schneidet rigoros den Aufstieg ab. Wittgenstein ist, nicht für Aufsteiger, man könnte sagen "ganz systematisch antiaufsteigerisch". Das hat den Grund, dass der Tractatus als ultraegalitär angelegt ist, zwar noch in diesem Rahmen stehend findet er jedoch eine Konstruktion, und dazu mehr beim nächsten Mal, die nicht mehr hinein passt in diese Mehrdeutigkeit des Sehens.

Verschiedenes sehen, verschieden sehen, die Verschiedenheit sehen

Und jetzt mache ich noch einen Sprung, um die genannten Überlegungen mit Wittgenstein in Zusammenhang zu bringen. Es geht jetzt um die diversen Verständnisweisen dessen, wie wir sehen. Um das kurz darzustellen:

  • Verschiedenes sehen:

Ich schau hierher, ich dreh mich um, ich seh was anderes. in meiner Sinnlichkeit wechseln sich die sinnlichen Environments ab und geben Verschiedenheiten.

  • verschieden sehen:

Hier ist diese Abwechslung einmal gestoppt. Es geht darum, ein und dieselbe Situation im Blick zu halten, und diese Situation hat einerseits den sinnlichen Gehalt - das ist das sinnliche Sehen. Und dann gibt es ein anderes Sehen, auf die Unterschiede hinein, das diese Unterschiede einschließt. Ich sehe beispielsweise die Hand als Ganzes und ich sehe die Hand als fünf Finger. Wenn ich sie als fünf Finger sehe, habe ich eine andere Art des Sehens.

  • die Verschiedenheit sehen:

Wir sehen, dass das verschieden ist. Wie kann man daran herankommen? Nach allem, was ich bisher gesagt habe, ist natürlich an der Stelle Vorsicht angezeigt, weil man Verschiedenheit nicht so sehen kann, wie verschiedene Umstände. Aber ich möchte Ihnen jetzt ein Beispiel bringen, das sich nahelegt, wenn man ein Beispiel für das Sehen der Verschiedenheit sucht. Warum ich das so expliziere hat den Grund, dass sich, glaube ich, zeigen lässt, dass Wittgensteins Tractatus, anschließend an die genannten Problemstellungen, genau auch auf einer bestimmten Deutung und Konstruktion dieses "die Verschieden sehen" aufgebaut ist.

Hier die Beispiele, es geht um eine sinnliche Gestalt, hier das Malteserkreuz. Wenn Sie ein wenig herumsurfen, werden Sie viele verschiedene Implementierungen des Malteserkreuzes sehen, etwa hier bei einem Rückspiegel Mk1.jpg, in der Röhre Mk2.jpg, in einer Reling Mk3.jpg. Es gibt hier viele Gelegenheiten, Verschiedenes zu sehen. Da ist die Birne, dort ist die Bremse, hier sehen Sie Stützen - niemand zwingt Sie dazu an der Stelle etwas herauszuholen, zu identifizieren. Sie müssen schon so ein kleines Rätselspiel machen, wie bei einem Intelligenztest. "Was ist an diesen drei Bildern ähnlich?" Ab einem gewissen Alter sollten Sie in der Lage sein, diese Frage zu beantworten. Selbst wenn Sie noch nicht den Begriff "Malteserkreuz" haben, haben Sie eine gewisse Mustererkennung, und können hier Ähnlichkeiten identifizieren - und damit sind Sie schon vom "Verschiedenes sehen" zum "verschieden sehen" herrüber gegangen. Unter dem Aspekt "Sagen Sie mir doch bitte, was ist an diesen drei Bildern gleich?" antworten Sie, nach einiger Suche, "Ja, dieses kreuzförmige Gebilde da" - damit haben Sie auf diese sinnlichen Inputs auf eine Art und Weise geschaut, die schon geleitet ist von Identifikations- und Begriffsunternehmungen. Und hier das Stück Mk5.jpg, dass den Übergang zu Wittgenstein gibt. Ein Viereck, in dem sich eine Gestalt findet, die, einfach beschreibend, wahrnehmungspsychologisch, eine Besonderheit hat: Wenn Sie das ansehen, ist Ihnen nicht von vornherein klar, ob das jetzt ein Malteserkreuz ist, oder gerade kein Malteserkreuz. Also: ist es eine Aussparung, durch die Sie hindurchschauen, oder aber eine Materialität ist, die vor Ihnen liegt, und die Sie greifen können. Greifbar, oder ungreifbar, das eine oder das andere. Vergessen Sie einmal für den Moment die natürlich legitime Redensweise, zu sagen, dass es, selbst wenn es eine Aussparung ist, gute Gründe gäbe dennoch zu behaupten, es handle sich um ein Malteserkreuz. Dass es kein materielles Malteserkreuz, sondern ein Loch in der Form eines Malteserkreuzes ist. Die wichtige Sache an der Stelle ist: selbst wenn man letzteres sagt, bezieht man sich auf eine Form, eine Malteserkreuzform, die in diesem Bild dadurch konstruiert ist, dass sie bestehen oder nicht bestehen kann, materiell ist, oder gerade eben nicht materiell ist. Das ist ein entscheidender Unterschied, dass Sie in Ihrer Umgebung verschiedene Malteserkreuze sehen, die Sie greifen können. Sie können an dieser Stelle Abstraktionsleistungen ansetzen lassen, wie in dem obrigen Beispiel. Das hier ist durch ein besonderes Feature gekennzeichnet, dass Sie nämlich an dieser Stelle eine Kompetenz des Umgangs mit "Malteserkreuz" bekommen können und kriegen, die darin liegt, dass Sie sagen, dass Sie verstanden haben, was ein Malteserkreuz ist, wenn Sie wissen, dass das entweder ein materielles Malteserkreuz, oder aber eine Aussparung, die die Form eines Malteserkreuzes hat. Wenn Sie das wissen, wissen Sie was ein Malteserkreuz ist, unabhängig davon, ob das in diesem speziellen Fall eines ist, oder zum Durchschauen.

Hinter Platon und Wittgenstein ist die selbe Idee

Warum ich Ihnen das so plastisch vorstelle, ist weil das nach meiner Interpretation die Grundeinsicht für Wittgenstein im Zusammenhang mit den Elementarsätzen ist. Elementarsätze haben genau diese Funktion, einen inhaltlichen Aufbau, eine interne Struktur, und zusätzlich ein Ja/Nein-, ein ON/OFF-Moment, Wittgenstein spricht von Richtungssinn. Er stellt das im Tractatus so vor, dass es einen Satz gibt, der Satz hat eine interne, relationale Struktur, und zwei Pole - sozusagen die ON und OFF Pole, was er damit meinen kann, lässt sich an der Stelle schön sagen: Das ist ein Malteserkreuz, oder es ist gerade kein Malteserkreuz, sondern eine Höhle, eine Aussparung. Wittgenstein weist darauf hin, dass diese beiden Sätze einerseits kontradiktorisch gegeneinander stehen, andererseits aber auf eine systematische Art präzise aufeinander bezogen sind. Der eine Sachverhalt ist wahr, genau dann, wenn der andere falsch ist, und umgekehrt.

Um das in Verbindung zu bringen mit dem, was ich bisher über Platon mit dem Stichwort "Eins, zwei, viele" gesagt habe, nun unter dem Strich meine These, die ich Ihnen vorlegen möchte: Hinter dieser Konstruktion von Platon, Sinnlichkeit und Gestalt der Sinnlichkeit, zu verbinden mit der Dualität des Wahren und des Falschen, des identifizieren- und nichtidentifizieren-Könnens, steht von der gedanklichen Konstruktion her in beiden Philosophiekontexten (die natürlich meilenweit auseinander sind) die selbe Idee. Und diese Idee, frei von Wittgenstein und Platon formuliert, ist die: Diese Konstruktionen kommen daher, dass wir philosophische Deutungen dafür haben wollen, dass Menschen in der Welt wahrnehmen und sich aus der Wahrnehmung auch teilweise rausabstrahieren, mit Hilfe von Urteilsmechanismen. Dass wir Strukturgestalten (=Wahrnehmung) und Polaritäten(=Urteilsmechanismen) haben, ist in diesen besonderen Konstruktionen abgebildet. Das Malteserkreuz ist hiervon nur eine kleine Illustration.

Notwendige Reduktion

Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel aus dem nächsten Punkt und zeige Ihnen ein Bildbeispiel, dass nach dem selben Muster gestrickt ist, wie das Malteserkreuz, doch etwas zeitgenössischer.

Wtc before.JPG

Nyc post wtc.JPG

Das ist die Skyline von New York. Stellen Sie sich vor, Sie waren gerade dort, Sie haben das in Erinnerung, Sie haben dieses Foto gesehen. Ein Jahr darauf kommen Sie wieder nach New York und Sie haben eine kognitive Dissonanz. Da fehlt etwas, nicht irgendetwas. In dem Moment, in dem Ihnen das auffällt, im Vergleich, ist das nicht so etwas einfaches wie "Meine Uhr liegt nicht mehr da, die muss irgendwo anders liegen" oder so. Das müsste in diesem, unserem Kontext zugespitzt werden, um möglich, machbar zu sein. Die Zuspitzung besteht für jemand, der weiß wohin ich steuere in all der sinnlichen Vielfalt, darin, dass ziemlich intuitiv von vornherein klar ist, dass ich genau etwas, genau den einen Unterschied, der diese beiden Bilder voneinander trennt, das eine, das nur in diesen zwei Varianten "anwesend" und "abwesend" kommt, das World Trade Center. Abgesehen von all den vielen Hochhäusern, das ist der eine Unterschied, der das an dieser Stelle ausmacht. An diesem Unterschied, und das ist gemeinsam bei Platon und Wittgenstein, der Kompetenz, Sinnlichkeit durchzuschneiden, lässt sich logische, dialektische Kompetenz des Menschen anknüpfen und diskutieren.

Die Landschaft alleine ist nicht signifikant genug, dass man den Unterschied an der Stelle sehen würde, das ist natürlich eine berechtigte Bemerkung, die gut zusammenpasst mit dem, was ich sagen möchte. Es ist ein schönes Beispiel dafür, dass man mit sehr unterschiedlichen Voreinstellungen und Interessen an eine solche Sache herankommt. Wenn ich in der Nähe wohne und möchte schauen, ob mein Haus noch steht, dann ist der Vergleich an der Stelle durchaus sicher, und der Rest interessiert mich jetzt nicht. Es gibt einen genau anzugebenden Grund warum ich auf mehr gespielt habe, als auf solche Vielfältigkeit. Wenn wir diese beiden Bilder haben, dann könnten wir uns eine große Gruppe von Leuten vorstellen, die mit diesen Bildern konfrontiert wird und jeden interessiert etwas anderes daran. Manche finden nur Gemeinsamkeiten, manche keine: das geht in die Richtung, verschiedenes zu sehen. Damit soetwas wie Vernunft aufgebaut wird, eine Vernunft die auf einen sicheren, verlässlichen Grundlage steht, die eine Rationalität begründet, muss man die vielen hunderttausenden unterschiedlichen Praktiken, die mit diesen Bildern möglich sind, reduzieren und abstrahieren und zusammenschneiden, auf einen bestimmten gemeinsamen meeting point. Und im Zusammenhang mit diesen beiden Bildern ist dieser meeting point: "Siehst Du auch, was ich sehe? Siehst Du, worum es da geht? Dass auf dem einen Bild die Twin Towers drauf sind und auf dem anderen nicht?" Das ist die Pointe dieses Bildes. zu bemerken, dass das in diesem Bild nicht so klar ist, ist richtig und wichtig, weil es um sehr vieles gehen kann. Die "Versuchssituation" mit dem Malteserkreuz hingegen ist gezielt reduziert, um leichter verständlich zu machen, was die Pointe ist. Und das ist wichtig, weil wir an diesen Szenarios ein entscheidendes Moment der Philosophie im Vergleich zugängig haben, nämlich vom Selben zu reden. Personen, die mit Sätzen, mit Bildern umgehen, reden vom Selben. Es geht darum, die Verschiedenheit zu sehen. Um meine rational-philosophische Rekonstruktion durchzuführen muss ich darauf bestehen, dass man mir nicht erzählt, dass die Textur nett sei, oder die Helligkeit nicht stimmt, oder warum es nicht rund wäre, sondern, und das ist in der Konstruktion notwendig, die Person darauf aufmerksam zu machen, dass es darum geht, ob es nun ein materielles oder nicht materielles Malteserkreuz ist, das eine, oder das andere. Das ist eine künstliche Reduktion, die aber mit der wahr/falsch-Reduktion zusammenhängt.

Wohin uns das führt

Worauf ich hinaus will, und das geht auch schon in Richtung Datenbanken, aber auch Kritik an dieser ganzen Weise des Denkens: Um nachvollziehbare Satzzusammenhänge und Argumentationen zu konstruieren, brauchen wir diese Art von Umgang mit Sätzen. Dieser Umgang ist jedoch eine eigens sehr zugeschnittene Praxis, was sich an den Bildern schön zeigt. Informationen in Datenbanken werden im Prinzip auf die selbe Art und Weise angelegt und gehandhabt. Die Kritik der Datenbanken setzt da natürlich an. Diese Art von "Ja/Nein, ON/OFF, stimmt oder stimmt nicht"-Attitüde, die man bei Datenbanken kritisiert - und das ist, worauf ich Sie vorbereiten möchte - ist etwas, das seit Platon angelegt ist, und über Wittgenstein in eine gegenwärtige Diskussion hereinkommt.