Achatz von Müller

Aus Philo Wiki
Version vom 2. Februar 2005, 17:37 Uhr von Nicolas (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Wechseln zu:Navigation, Suche

Selige Apathie

Welchen Nutzen haben Germanistik, Philosophie oder Kunstgeschichte? Die Geschichte einer falsch gestellten Frage

Von Achatz von Müller


Die Geisteswissenschaften sind nutzlos. Und sie schämen sich dafür. Allerdings noch nicht sehr lange. War es nicht soeben noch ihr besonderer Charme, über keinen direkten gesellschaftlichen oder gar wirtschaftlichen Nutzen zu verfügen? Hatte nicht der Bund Freiheit der Wissenschaft gerade diese Nutzlosigkeit als Schild wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit gegen die "unwissenschaftliche" Zumutung gepriesen, sich als "gesellschaftlich relevant" zu erweisen?

Gewiss. Aber das war gestern - oder genauer: in einer anderen Epoche, in den dunklen Jahren nach 68. Immerhin hatten diese Jahre in Gestalt des Soziologen Pierre Bourdieu und dessen Untersuchung über den Homo academicus die Nutzlosigkeit der Geisteswissenschaften als habituellen Bluff demaskiert. Die "scientific community" sehe - so Bourdieu - in den Geisteswissenschaften ihre genuine Repräsentation, weil sie dem wissenschaftlichen Ideal der Freiheit von nivellierenden Dienstfunktionen am nächsten komme. Indem nämlich Wissenschaft "sich als absolutes Subjekt setzt" und sich erst dadurch imstande dünkt, alles andere als Objekt zu setzen, enthebt sie sich auch den Zwecken dieses anderen. Zwar hatte schon Max Weber die Zweck- und Wertfreiheit der Wissenschaft ineinander verwoben gesehen; Bourdieu jedoch präsentiert diesen Zusammenhang als habituelles Konzept im Wettstreit um gesellschaftliche Anerkennung. Der "Narzißmus der Philosophen" schaffe kulturelles und symbolisches Kapital, wie geschaffen für einen stimulierenden Tausch zwischen Sozialprestige und sicherem Einkommen. So nützlich also kann Nutzlosigkeit sein.

Schon im Mittelalter sprach man von den "zwei Kulturen"

So besehen, sollte nichts unsicherer erscheinen als ebendiese vermeintliche Nutzlosigkeit. Und tatsächlich steht am Anfang aller Geisteswissenschaften die Propagierung ihres außerordentlichen Nutzens. Sowohl in der Politik wie in den Schriften zur Philosophie wird Aristoteles nicht müde, den Wert aller theoriegeleiteten, also allein auf Anschauung gestützten Disziplinen für die menschliche Sozialisation zu bekräftigen: "Obwohl das hier erworbene Wissen doch theoretisch ist, so vollbringen wir doch unzählige Handlungen nach seinem Muster, indem wir nach seiner Maßgabe das eine ergreifen, das andere lassen, und vor allem mit seiner Hilfe alles Gute erwerben."

Nun ist theoria nicht "Geist" - wenigstens als disziplinäres Merkmal von Wissenschaft. Aber die auf der Wissenschaftslogik des Aristoteles beruhende mittelalterliche "Erfindung" der Universität hatte die disziplinäre Differenz gleich mitgedacht. In den artes liberales, den von Freien zur Freiheit erziehenden sieben "freien Künsten", waren mit der Unterteilung von quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) und trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) nicht nur disziplinäre Prototypen, sondern auch das Grundmuster der "zwei Kulturen" gestrickt worden. Dass dieses Muster früher positioniert war - im Grunde seit dem 6. Jahrhundert - als seine institutionalisierte Verfestigung durch die "Universität" (seit dem 12. Jahrhundert), hat weitreichende wissenschaftsgeschichtliche und soziale Folgen. Dieser Tatbestand hilft uns zum Beispiel, zu verstehen, warum europäisch-kontinentale Wissenschaftseliten sich allenfalls disziplinär und nicht universitär in agonale Brotspiele und Ranking-Kämpfe hetzen lassen. Ganz im Gegensatz zu den amerikanischen Eliten, die keine Universität avant la lettre kennen.

Dass die Forderung nach einem "deutschen Princeton" nicht nur die europäische Wissenschaftsgeschichte verkennt, sondern auch den Nutzen der Geisteswissenschaften kaum steigern wird, lässt sich rasch erahnen. Denn der Gedanke des wissenschaftlichen Nutzens entstammt der voruniversitären Küche der Disziplinen. Genauer: des Triviums, der Urmutter der Geisteswissenschaften.

Lassen wir einmal außer Acht, dass die Fächer des Triviums schon insofern nützlicher als das Quadrivium erschienen, als sie vor allem die Lektüre und das Verständnis der Heiligen Schrift erleichterten. Denn die artes galten bekanntlich als Hilfswissenschaften der Theologie. Vielmehr geht es um die Wissenschaftslogik selbst. Diese kreist bei den Fächern des Triviums und der sie verbindenden Argumentationslehre unablässig um die Frage: "Warum muss man diese Disziplinen loben?" So kehren ebenso unablässig dieselben stereotypen Titel auf: Laus - philosophiae, dialecticae, grammaticae ... Also: Lob der Philosophie, Dialektik, Grammatik et cetera.

Ziel dieser Gattung disziplinären Lobschrifttums war es, den jeweiligen Nutzen einer Disziplin zu beleuchten. Verstehen, Argumentieren, Unterscheiden waren demnach die Fertigkeiten, die mit den mittelalterlichen "Geisteswissenschaften" erworben wurden. Bereits für sich nützlich, stimulierten sie neben dem erwähnten höchsten Nutzen des Bibelverständnisses vor allem eine Fähigkeit: Streitigkeiten zu entscheiden, ohne dass man sich dafür gegenseitig die Köpfe einzuschlagen brauchte. Mit einem Wort: Die Geisteswissenschaften erhöhten die Friedensfähigkeit der Gesellschaft.

Wem der Nutzen dieser Entscheidungsfähigkeit nicht einleuchtete, hielt der wirkungsvollste unter den hochmittelalterlichen "Geisteswissenschaftlern", Peter Abaelard (gestorben 1142), eine Lehrfabel entgegen, die die vernichtendste Pointe gegenüber intellektueller Ignoranz enthält. Sie geht so: "Ein Fuchs sieht wunderbare Kirschen an einem Baum. Er versucht sie zu pflücken. Als ihm dies nicht gelingt, ruft er mit gespielter Verachtung: ,Ich will keine Kirschen. Sie schmecken nicht.'"

Die konstitutive Beziehung zwischen Nutzen und Geisteswissenschaften bleibt dabei kein nur mittelalterliches Phänomen. Die hochscholastische Wissenschaftslehre eines Thomas von Aquin, die das Studium der Disziplinen des Triviums sowie der Philosophie eng mit dem bonum commune, dem Gemeinwohl, in Beziehung setzte, mag noch als aristotelisch inspirierte Verirrung erscheinen - zu viele Autoritäten sind im Spiel, die das selbstständige Denken verbieten. Aber ebendieser Gedanke wirkt zutiefst auf jene Denkform, die wir als "Aufbruch in die Moderne" feiern: den Humanismus.

Dies zeigt sich etwa an einem der wichtigen, auch politisch agierenden Frühhumanisten, dem Florentiner Staatskanzler Coluccio Salutati (gestorben 1406), der eine wegweisende Abhandlung über den "Adel der Wissenschaften" geschrieben hat. Man beachte den hier anklingenden Aufstiegsnutzen für das noch junge Bürgertum: Wissenschaft adelt. Dabei kommt Salutati auch auf den Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu sprechen. Die Naturwissenschaft vertritt die scheinbar nützlichste Disziplin: die Medizin. Dennoch ist das Ergebnis schon bald klar. Natürlich, schreibt Salutati, sei Medizin nützlich, sie heile Schmerzen und Gebrechen des Körpers. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

"'Habe ich doch schon so viele Hochschulen, und das zumeist voll Hochmut, betreten", erklärt die Medizin. "Doch habe ich jemals erlebt, dem Recht und den schönen Künsten vorgezogen zu werden?" "Niemals", lautet ihre zerknirschte Antwort. Und warum nicht? - "Weil ich allenfalls die Körper heile, jene anderen aber heilen den Geist der Menschen und das Gemeinwesen.'"

In Salutatis Sätzen klingen noch immer Friedensstiftung, Entscheidungsfähigkeit und Gemeinwohldenken der Früh- und Hochscholastik nach. Allein ein Motiv ist neu: "Wir, die Naturwissenschaften, erforschen die Hilfen der Natur und stemmen uns ihrer Vergänglichkeit entgegen. Jene aber säen Ewiges ewigen Seelen ein." Damit stehen die Geisteswissenschaften zum ersten Mal neben der Theologie auf gleicher Augenhöhe. Ihr Gegenstand umfasst die geistigen und seelischen Kräfte des Menschen. Nur peripher dienen sie noch als Hilfswissenschaften des Schriftverständnisses.

Salutatis Sätze markieren eine großartige Zäsur. Denn mit ihr ist jener direkte Zugang zur geistigen und seelischen Erziehung erreicht, der die "Geisteswissenschaften" fortan auszeichnen soll. Und tatsächlich, das hier entzündete Feuer des individuellen und gemeinschaftlichen Nutzens dieser Wissenschaften - Philosophie, Philologie und Geschichte als den nunmehr Ersten unter ihnen - entflammte ganze Generationen. Es veranlasste zum Beispiel den Nachfolger Salutatis im Florentiner Staatsamt, Leonardo Bruni, davon zu schwärmen, dass der "höchste Nutzen für den Menschen in den Wissenschaften vom Guten und Schönen" bestehe, denn "sie erfreuen Geist und Gemüt, befähigen zu höchsten Ämtern, ziehen höchste Anerkennung nach sich und steigern das Gemeinwohl".

Wegen dieses Nutzens zieht Machiavelli am Abend seine schönsten Kleider an, um sich antiken Autoren und den ihnen "zugewandten Wissenschaften" zu widmen. Und Erasmus von Rotterdam erfindet eine Art gelehrter Baskenmütze, die nicht allein dazu dient, die physiognomische Schablone des ersten europäischen Intellektuellen abzugeben, sondern auch den jedweder geisteswissenschaftlicher Norm spottenden flachen Hinterkopf des Meisters zu verbergen.

Das von Bruni aufgeführte Grundmuster des geisteswissenschaftlichen Nutzens wird unzählige Male wiederholt und variiert, aber kaum mehr in Zweifel gezogen. Eine Steigerung bietet jedoch die Morallehre der englischen und schottischen Aufklärung. Schon Shaftesbury sendet seine Briefe an einen jungen Mann auf der Universität (1716) mit der Vorstellung ab, er müsse diesen zum Studium der Geisteswissenschaften als Methode und Kritik aller Wissenschaft anhalten. Denn "erst wenn der Zusammenhang der Dinge erkannt ist, kann auch der Nutzen aller erreicht werden".

David Hume schließlich verlegt diese enzyklopädische Nutzanwendung zwei Generationen später auf den sozialen Zusammenhang der Wissenschaften. Es sei undenkbar, dass eine Gesellschaft, die nicht an einer Verbesserung der humanities interessiert sei, geschickte Weber, Schiffszimmerer oder auch nur tüchtige Generale hervorbringe. So klärt sich ihm der Nutzen der Geisteswissenschaften in seinen Essays Über die Verbesserung in den Künsten sowie Über Aufstieg und Fortschritt der Künste und Wissenschaften auf indirekte Weise. Mit Hume verändert sich der Diskurs, denn Wissenschaft bewirkt ihren Nutzen fortan allein durch ihre Qualität. Jedes Segment der Gesellschaft wird für sich selbst verantwortlich. Unsichtbar wirkt die Qualität des Einzelnen auf die Qualität des Ganzen. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein.

"Geist genügt sich selbst": Immer schon eine aristokratische Geste?

Nun sprachen bisher die "Geisteswissenschaften" nur für sich. Kein Wunder, dass sie sich für nützlich halten, mag man einwenden. Doch der Blick auf die Träger der utilitas publica, die Vertreter des Staates, zeigt, dass diese Nützlichkeitspropaganda erfolgreich war. So erfolgreich, dass ein bloßer Propagandaeffekt auszuschließen ist. So gründet der Intellektuelle unter den mittelalterlichen Herrschern, Kaiser Friedrich II., 1224 die Universität Neapel und benennt außer den klassisch nützlichen Fakultäten Medizin und Jurispudenz ausdrücklich die Artistenfakultät (Philosophie und artes liberales) als für das Königreich unerlässliche Disziplinen. Acht Jahre später lädt er die Professoren dieser Fakultät ausdrücklich dazu ein, sich den neu übersetzten griechischen Texten der Antike zuzuwenden, denn "diese müssen fruchtbar für die Allgemeinheit werden". Dabei verrät er auch, worin er den Nutzen der Geisteswissenschaften erblickt: Sie verhelfen der Gesellschaft zu "Würde, Ehre und Selbstbewusstsein".

Ganz ähnlich klingt es, wenn ein Jahrhundert später eine Bürgergesellschaft wie Florenz den ersten öffentlichen Lehrstuhl zur Auslegung der Divina Commedia Dantes errichtet und Giovanni Boccaccio darauf beruft. Auch er diene dem höchsten Nutzen der utilitas publica, indem er die Ehre der Stadt erhöhe. Das ist umso bemerkenswerter, als sonst ganz wirtschaftsbürgerlich gedacht wird. Recht und Medizin standen in Florenz bei allen Bildungsinvestitionen vorn. Tatsächlich aber begegnen wir hier einer tiefgreifenden Diskrepanz über die Frage des Nützlichen. Diese frühen Bürgergesellschaften waren tief zerrissen über das Problem, ob denn der kulturell-individuelle Nutzen über dem politisch-gemeinschaftlichen stehe oder umgekehrt. Führen Glück, Wohlhabenheit und Bildung des Einzelnen zu einer besseren Gesellschaft, oder verwirklicht sich das Glück des Einzelnen erst in einer wohl geordneten Gesellschaft?, lautete die Frage der "Bürgerhumanisten".

Diese Frage wirkte fort in der Tradition der europäischen Morallehre. Bis sie schließlich von Adam Smith wegweisend beantwortet wurde. In seiner Moral- und Wirtschaftslehre hat der Moralphilosoph (nicht Ökonom) Smith die humanistische Frage zu lösen versucht. Seine Hauptentdeckung dafür war der Eigennutz. Indem alle Menschen danach trachten, ihre wirtschaftliche Lage und ihr Sozialprestige zu verbessern, schaffen sie - so Smith - den "Wohlstand der Nation".

Dieser sacro egoismo enthält zwar im Kern auch die alte humanistische Idee der Fähigkeit zur Freundschaft, aber für sich genommen ist er gefährlich. So zäunt Smith die hier erweckte Bestie sogleich wieder ein. Das egoistische Handeln könnte den Menschen zum Wolf des Menschen werden lassen - Smith schätzte Hobbes. Doch Konkurrenz, Rechtsgefühl, institutionelles Recht und last, but not least die moralischen Wissenschaften helfen den Egoismus in gemeinnützige Kanäle zu lenken. Die "unsichtbare Hand", die dieses vermag, ist nichts als das Zusammenspiel selbstrefenzieller Kräfte.

Smith hatte die Entdeckung seines Freundes Hume zu Ende gedacht. Die Gesellschaft entwickelt sich im Gleichschritt ihrer Teilsysteme und sichert damit nicht nur wirtschaftliche, sondern - wichtiger noch - soziale Konkurrenz. Die humanities als "moralische Wissenschaften" haben hierbei die Aufgabe, die geschichtlichen und geistigen Leistungen, Möglichkeiten und Gefahren aufzuzeigen, die Mensch und Gesellschaft auszeichnen, verlocken, bedrohen. Vor allem aber werden diese Repräsentanten der Lebenswelt nützlich, indem sie sich selbst nach dem Gesetz des Egoismus entwickeln.

Mit der Entdeckung der selbstreferenziellen Konkurrenz als Motiv des höchsten gesellschaftlichen Nutzens ist eine Schnittstelle der Moderne erreicht. Sie fordert aber auch den Blick auf die Schatenseiten des geisteswissenschaftlichen Diskurses. Denn der Zweifel an ihrem Nutzen ist so alt wie sie selbst. Er gilt zunächst allerdings eher den Akteuren als den Disziplinen. Noch einmal Abaelard: Er stand im Zentrum derartiger Kritik. Die augustinisch-platonische Tradition der artes liberales empfand seine aristotelische Autonomie als ebenso anstößig wie die Mönchskritik eines Bernhard von Clairvaux gegenüber einer Philosophie, die sich anmaßte, so nützlich zu sein wie Theologie.

Tempi passati. Was aber blieb, war die Kritik an der aristokratischen Geste Abaelards. Seiner Behauptung, Geist genüge sich selbst. Die Gegner verstanden vor allem nur eines: Geist ist geil. Das sexuelle Verhältnis des Pariser Star-Professors mit einer minderjährigen Schülerin, H‚loise, führte bekanntlich zur Höchststrafe: Kastration des Gelehrten. Aber die treue Schülerin wurde nicht müde zu versichern, für Geisteswissenschaftler des Formats Abaelards seien Küche und Kinder gänzlich sinnlos. Für sie gebe es als Kommunikation mit Frauen nur Sex und Geist, daher sie - H‚loise - auch nicht Ehefrau, sondern Hetäre genannt werden wolle.

Die Spur, die sich hier auftat, wurde kilometerlang. Sie führt von Boccaccios Spott über die Sexstimulanz der Kleriker und deren jüngere Konkurrenz, durch die "Artisten", Montaignes Spott über den erotischen Dauererfolg von Philosophieprofessoren, die "indiskreten Kleinode" Diderots bis zur erotischen Blödheit eines Professor Unrat. Dieser aber bildet die Verbindung zur anderen Seite der gelehrten Selbstgenügsamkeit: die von Abaelard propagierte Genügsamkeit des Geistes an sich selbst. Hier findet sich die ebenfalls kilometerlange Parallelspur zum sexistischen Wissenschaftler. Sie bezeichnet die gelehrte Apathie, das Ideal stoischer Unabhängigkeit, das sich materiell und mental als Anspruch an die Gesellschaft verkleidet, um dann um ihrer selbst willen bezuschusst zu werden. Es präsentiert sich positiv im Ideal der sprezzatura des Kavaliers und Gentleman, negativ im Ornat des Bildungsnarren (Michael Naumann, ZEIT Nr. 50/03) - jenes "mit Büchern bepackten Esels", den Montaigne Arm in Arm mit dem erotischen Charme des weltläufigen Wissenschaftlers karikiert.

Es ist diese Spur, die nach Hegel in das Ideal der allem Nutzen enthobenen, ganz und gar dem "Geist" ergebenen Wissenschaft mündet. Nun aber wird sie als Kanon von Wissenschaftsdisziplinen beschrieben, abweichend von jenem hübschen Diktum Montaignes: "Überflüssig ist Gelehrtheit nur an überflüssigen Gelehrten."

Schließlich bricht sich diese Spur an der radikalen Kritik Nietzsches, die nicht nur den "Nutzen der Historie für das Leben" in Zweifel zieht, sondern sehr viel grundsätzlicher noch in seinen sechs Basler Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten von 1872 den Geisteswissenschaften keine Zukunft in bisheriger Gestalt zuspricht. Denn ohne wirklichen "Erkenntnistrieb", ganz allein auf "Bildung" fixiert, bleibe diesen Wissenschaften nur noch die Bereitschaft "zur wirklichen, wenn auch niedrigen Nützlichkeit", die ihre Ratlosigkeit durch Rastlosigkeit einer "ins Unsinnige anschwellenden Buchmacherei" kompensiere. Wie zur Antwort formuliert Wilhelm Dilthey zehn Jahre später den Nutzen einer modernisierten Form der Geisteswisenschaften: Die Herausforderung der Moderne liege seit der Fanzösischen Revolution in den gesellschaftlichen Krisen. "Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten ... ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber denen der Natur."

McKinseys Methoden verstärken die Krise der Universität

Hat man diese Passage Diltheys nicht gelesen? War der "Geist" verlockender als "die Gesellschaft"? Oder war es nur einfach der Sirenengesang des Habitus, wie Bourdieu insinuiert, der die Geisteswissenschaften zur Propagierung ihrer seligen Apathie verführte? Wie dem auch sei. Nun herrscht großer Jammer. Und unablässig wird das Rad neu erfunden. Odo Marquard verkündete die "Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften" als Kompensationswissenschaften. Sie dienen ihm gleichsam als Reparaturbetrieb der Moderne. Ein genialer Einfall. Denn je moderner wir werden, desto mehr Geisteswissenschaften bräuchten wir. Das Perpetuum mobile eines Zuschussbetriebes.

In verbesserter Auflage wurde aus Kompensation Orientierung, und viele schöne Gedanken kamen hinzu: Hartmut Böhme konstruiert die Geisteswissenschaft neu im interdisziplinären Dialog als "Lebenswissenschaften" (ZEIT Nr. 49/02), Dan Diner als "cultural engineering". Klaus Landfried ruft zum selbstbewussten Kampf um Drittmittel mit transdisziplinären Projekten auf, um die Geisteswissenschaften als Orientierungsdisziplinen für ein "gutes und gerechtes Leben" zu erneuern. Da ist es vielleicht am nützlichsten, mit Dieter Langewiesche darauf hinzuweisen, dass diese Disziplinen in aller Stille, aber vieltausendfach neue Berufsmöglichkeiten für den seit den achtziger Jahren wegbrechenden Arbeitsmarkt für Lehrer entwickelt haben, und zu mehr Gemeinsamheit aufzurufen.

Die Krise findet innerhalb der Disziplinen statt. Die Stichworte sind: Kleinteiligkeit der Forschung durch Nischenproduktion - was niemanden interessiert, ist Wissenschaft; der Verlust an Komplexität und Kompetenz der Wissenschaft, Probleme zu lösen durch ihr politisches und wirtschaftliches Feilbieten; die McKinsey-Adaption kostengünstigen Outputs in Verbindung mit einem Defizit an Organisations- und Orientierungsangeboten; und vor allem: neurotischer Mangel an Selbstbewusstsein. Die Frage nach dem Nutzen jedenfalls erweist sich als sinnlos oder so sinnvoll wie die Frage nach dem Nutzen des Menschen. Das ist zugegeben ein grober Keil, aber das Ganze ist ja auch ein grober Klotz.

Achatz von Müller ist Professor für Geschichte an der Universität Basel

(c) DIE ZEIT 22.04.2004 Nr.18



zurück Ergänzende Materialien

zurück Begriff und Wahrheit