5. März 2007

Aus Philo Wiki
Version vom 17. Mai 2007, 12:39 Uhr von Uk (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Wechseln zu:Navigation, Suche

Einleitung

In Thomas Vinterbergs Film treffen wie in der geplanten Lehrveranstaltung Ethik und Psychoanalyse aufeinander. Wozu? Einerseits braucht die Psychoanalyse eine Ethik ihrer Behandlungspraxis. Andererseits sind ethische Erfordernisse Teil der psychischen Ökonomie von Subjekten. Schließlich liefert die Psychoanalyse Beiträge aus ihrer Erfahrung mit dem Unbewussten, die für eine zeitgemäße Ethik relevant werden können. Die Lehrveranstaltung widmet sich vor allem dem zweiten und teilweise dem dritten Zusammenhang (nicht ohne bisweilen auf den ersten zu schielen).

Jacques Lacans Überlegungen zur Ethik sind bis dato am besten im Hinblick auf seine Rezeption von Kant erforscht. Indem Ricoeurs Kleine Ethik (Ricoeur 1990) einbezogen wird, soll Lacans Aristoteles-Bezug näher untersucht werden. Emanuel Levinas als der dritte Autor, mit dem Lacans Entwürfe für eine Ethik der Psychoanalyse ebenfalls in Zusammenhang zu stellen wären (Fryer 2004), bildet nur den (schattenhaften) Hintergrund des Seminars.


Gesetz und Ding

Bei Kant und Lacan steht das Gesetz im Zentrum. Bernet (1994, 27) meint, beide Denker hätten sich mit der Weise, wie sie das Gesetz behandeln, dem Vorwurf eines ethischen Rigorismus ausgesetzt. Aber das Verhältnis, das Lacan und Kant zum Gesetz beschreiben, ist ein sehr unterschiedliches: Kants Pflichtenethik hat mit der Ethik der Psychoanalyse zunächst nicht viel zu tun. Kant, so scheint es, geht es um die Überwindung eines subjektiven Begehrens, Lacan um die Entdeckung eines solchen. Das Begehren bei Lacan bedarf des Gesetzes, weil das richtige Verhältnis zum Gesetz die Bedingung der Möglichkeit darstellt, überhaupt zu begehren. Das Gesetz Lacans ermöglicht ein richtiges Begehren, eine Kultur des Begehrens. Das sind Züge, die dem Gesetz Kants fehlen, Züge, die am Ende auch dazu führen werden, dass Lacans und Kants Wege sich trennen.

Den Ausgangspunkt bilden Ähnlichkeiten: Beide, Lacan und Kant reden vom Ding. Lacan nimmt eine kreative Umdeutung des Kant'schen Topos vor, versetzt ihn aus Kants Kritik der reinen Vernunft in die Ethik, in den Bereich der Kritik der praktischen Vernunft. Kants Ding wird qua Bezeichnung mit Freuds Ding assoziiert. Für Freud ist das Ding ein unerkennbarer und schließlich verschwindender Rest aus der Vorzeit des Individuums, ein verlorenes Objekt, die Mutter, der Körper der Mutter, wie es in späteren psychoanalytischen Theorien heißt. Lacan besteht darauf, dass sich das Ding „nur zeigt, indem es Worte macht“ (Lacan 1986, 70). Aus dem passiven Freudschen Objekt wird ein Agens. Lacans Konzeption des Dings als eines unbestimmbaren Fokus' brennenden Interesses an einer vollen Befriedigung bedingt jede spätere Objektbeziehung. Das Ding ist erforderlich, um das Begehren, die durch Lacan erweiterte Variante von Freuds Wunsch, aufrechtzuerhalten. Ihm kommt daher eine zentrale Funktion Lacans Konzept des Subjekts zu. Das rechte Verhältnis zum Ding zu finden, ist die Aufgabe, die in der Anerkennung der Kastration zu bewältigen ist.


Subjekt und Überich

Sowohl Kants als auch Lacans Subjekt ist ein gespaltenes. Die Gespaltenheit ergibt sich in beiden Fällen aus dem Bezug des Subjekts zu einem Gesetz. Für Lacan handelt es sich dabei um das Gesetz der Kastration, die er mit der Fähigkeit des Subjekts assoziiert, zwischen dem abwesenden Objekt und dem Ding unterscheiden zu können. Kants Subjekt verdankt seine Spaltung dem Sittengesetz. Obwohl Lacan bisweilen eine Identifikation von Sittengesetz und Gesetz der Kastration, dem Gesetz des Begehrens, nahelegt (Lacan 1973, Sitzung vom 24. Juni 1964), ist eine solche Fusion irreführend: Kants gespaltenes Subjekt unterliegt einer Art Spaltung zweiter Ordnung, einer Spaltung zwischen jenem Subjekt, das bei Lacan bereits durch eine Bezugnahme auf das Gesetz des Begehrens gespalten ist, und jenem Subjekt, das seinen pathologischen Neigungen nachgibt (Zupancic 2001, 37).

Eine oberflächliche Lektüre Kants könnte dazu tendieren, das Überich als Ort der Selbstgesetzgebung aufzufassen. Doch einer selbstverständlichen Aneignung moralischer Forderungen durch das Überich erteilt Lacan aus psychoanalytischer Perspektive eine Absage. Das Überich kann dem moralischen Bewusstsein als Stütze dienen, Handlungsmaxime finden sich entgegen den Hoffnungen der Sozialpsychologie hier keine (Lacan 1986, Sitzung vom 29. Juni 1960).


Filmbild

Das ästhetische Subjekt auf seine Bedeutung in einem künstlerischen Kontext zu beschränken, ist falsch, denn es verkörpert „eine Form relationalen Seins“ (Bersani 2006, 164). Das filmische Subjekt und das Zuschauersubjekt sind daher gleichzeitig auch als ethische Subjekte anzusehen (vgl. auch Copjec 2002). Die Dogma95-Produktion Das Fest hat eine formale Ähnlichkeit mit Kants Ethik: Sie ist das Ergebnis einer rigiden Selbstgesetzgebung, einer speziellen Manifestation der Kastration. Die beteiligten Regisseure haben sich einem strengen Keuschheitsgelübde unterworfen (siehe unten). Die Exklusion gängiger Methoden zur filmischen Affektstimulation entspricht dem Ausschluss von Neigung und selbstsüchtiger Absicht bei Kant. Und ähnlich wie für das ethische Subjekt wird eine Form von Exstase des Zuschauers durch Restriktion befördert. Lust also nur auf Basis eines durch ein Gesetz verordneten Verzichts? Lacans Lesart von Kant ist eine andere: Das Gesetz basiert auf einer „beinahe natürlichen Barriere“ (Lacan 1991, 198), stellt eine Art Denaturalisierung eines von der Ökonomie des Genießens vorgegebenen Phänomens dar und gestattet in einem zweiten Schritt, an seine Überschreitung zu denken (Zupancic 2001, 102). Der Horror, den wir vor dem alten Klingenfeldt hegen, ruft geradezu nach den Gesetzen von Dogma – aber auch nach deren Überschreitung.


Kastration

Die Kastration steht psychoanalytisch im Zentrum der Ethik, wenn sie im Sinne Lacans als Synonym für eine allgemeine Form der Anerkennung eines Mangels aufgefasst wird. Für Freud umfasst der Kastrationskomplex die Fantasien rund um den anatomischen Geschlechtsunterschied (Freud 2000). Dessen Entdeckung geht einher mit einer Suche nach dem Urheber. Der Sohn macht den Vater für die Kastrationsdrohung verantwortlich. Die Verhältnisse bei der Tochter, das ihr zugeschriebene schwächere Überich, sind Thema jahrzehntelanger Diskussionen unter AnalytikerInnen (Horney 1984, Grunberger/Chasseguet-Smirgel 1974, Copjec 2002). Kastrationsangst tritt, so die retrospektive Sicht, am Übergang von einem mütterlichen Universum in eine väterliche Ordnung, von einer dualen Fesselung in eine triangulierte Formation, von einem Reich individueller Bedürfniserfüllung in ein durch ein Gesetz geregeltes Miteinander auf. Für Lacan ist jede Angst im Kern Kastrationsangst. Allerdings versteht Lacan darunter nicht die Angst vor der Kastration, sondern die Angst, dass die Kastration, die Einführung eines Mangels, ausbleiben könnte, das Subjekt einem gesetzlosen, einem ungeregelten Genießen überlassen bliebe. Diese paradox anmutende Verschiebung kennzeichnet auch Lacans Ethik der Psychoanalyse. Die traditionelle Spannung zwischen egoistischen Wünschen und moralischer Pflicht verlagert sich in eine, an Nietzsches Überlegungen zum Dionysischen erinnernde Spannung zwischen verschiedenen Formen des Genießens. Ein moderates, gleichsam gesetzlich geregeltes Genießen steht einem entfesselten, exzessiven, selbstzerstörerischen gegenüber.


Verweise

Bernet, Rudolf [1994]: Subjekt und Gesetz in der Ethik von Kant und Lacan, in: Hans-Dieter Gondek / Peter Widmer (Hg.): Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens: Kant und Lacan, Frankfurt/M.: Fischer 1994, 27-51.

Bersani, Leo [2006]: Psychoanalysis and the Aesthetic Subject, in: Critcal Inquiry 32 (Winter 2006), 161-174.

Copjec, Joan [2002]: Imagine there's no Woman. Ethics and Sublimation. Cambridge, London: MIT Press 2002.

Freud, Sigmund [2000]: Über infantile Sexualtheorien, in: ders.: Studienausgabe Bd. V, Frankfurt/M.: 2000, 169-184.

Fryer, David Ross [2004]: The Intervention of the Other. Ethical Subjectivity in Levinas and Lacan, New York: Other Press 2004.

Grunberger, Bela/Janine Chasseguet-Smirgel (Hg.) [1974], Le Complexe de Castration, un fantasme originaire, Paris: Tchou 1974.

Horney, Karen [1984]: Die Psychologie der Frau, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1984.

Lacan, Jacques [1973]: Le séminaire, Livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, 1964, (texte établi par Jacques-Alain Miller), Paris: Seuil 1973.

Lacan, Jacques [1986]: Le séminaire, Livre VII: L'Ethique de la psychanalyse, 1959-1960, (texte établi par Jacques-Alain Miller), Paris: Seuil 1986.

Lacan Jacques [1991]: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten, in: ders., Schriften II. Berlin, Olten: Quadriga 3. Aufl. 1991, 165-204.

Zupancic, Alenka [2001]: Das Reale einer Illusion. Kant und Lacan. Frankfurt/M.: 2001.


--Uk 16:24, 10. Mär 2007 (CET)




Film: Thomas Vinterberg, Das Fest




Was ist Dogma95? Welchen Regeln muss ein Dogma95-Film entsprechen?

Dogma95 ist ein Manifest der dänischen Filmregisseure Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Soren Kragh-Jacobsen, das 1995 vorgestellt wurde. Dabei verpflichten sich die Regisseure, folgendem "Keuschheitsgelübde" Folge zu leisten.


1. Gedreht wird nur an Originalschauplätzen, Requisiten dürfen nicht herangeschafft werden

2. Musik muss im Film vorkommen und darf nicht nachträglich eingespielt werden

3. Es dürfen nur Handkameras verwendet werden

4. Die Aufnahme muss in Farbe sein und künstliches Licht ist nicht erlaubt

5. Spezialeffekte und Filter sind verboten

6. Der Film darf keine Waffengewalt oder Morde zeigen

7. Zeitliche oder lokale Entfremdung ist verboten

8. Es darf kein Genrefilm sein

9. Format Academy 35 mm

10. Der Regisseur darf im Vor- oder Abspann nicht erwähnt werden


<root>


<h level="4" i="1">==== Kontext ====</h>

SE Kastration. (Kadi SS 2007)</root>