Aus Quines "Ontologische Relativität"

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Versetzen wir uns, um dieses Dilemma aufzulösen, zunächst in die vertraute Lage eines Sprechers unserer Muttersprache mit all ihren Prädikaten und Hilfsmitteln. Darunter sind: »Hase«, »Hasenteil«, »Hasenstadium«, »Formel«, »Zahl«, »Ochse« und »Vieh«, ferner die zweistelligen Prädikate der Identität und der Verschiedenheit sowie andere logische Partikel. Damit können wir auf sehr verschiedene Weise ausdrücken, daß dieses eine Formel und jenes eine Zahl, dieses ein Hase und jenes ein Hasenteil ist, daß das da und dies dort verschiedene Teile sind. Mit genau diesen Wörtern. Dieses Netzwerk von Termen, Prädikaten und zusätzlichen Hilfsmitteln ist relativistisch ausgedrückt unser Referenzrahmen, unser Koordinatensystem. Relativ zu ihm können wir sinnvoll von Hasen und ihren Teilen, von Zahlen und Formeln reden und sie auseinanderhalten. Wie in den vorausgegangenen Abschnitten betrachten wir nun alternative Denotationen für unsere vertrauten Terme. Es wird uns langsam klar, daß eine geniale und phantastische Vertauschung dieser Denotationen -- mit kompensierenden Korrekturen bei der Interpretation der Hilfspartikel -- immer noch zu allen bestehenden Sprachdispositionen passen könnte. Dies ergab die Unerforschlichkeit der Referenz, die uns selbst betrifft; und so wurde die Referenz zu Unsinn. Nicht zu Unrecht; Referenz ist Unsinn, es sei denn, man relativiert sie auf ein Koordinatensystem. Dieses Relativitätsprinzip löst unser Dilemma auf.

Es ist sinnlos zu fragen, ob unsere Ausdrücke »Hase«, »Hasenteil«, »Zahl« etc. im allgemeinen wirklich über Hasen, Hasenteile, Zahlen etc. sprechen und nicht über gewisse geistreich vertauschte Denotationen. Absolut gestellt ist diese Frage sinnlos; sie läßt sich sinnvoll nur relativ zu einer Rahmensprache stellen. Wenn wir fragen: »Spricht >Hase< wirklich über Hasen?«, so kann jemand mit der Frage kontern: »>Spricht über Hasen< in welchem Sinn von >Hase<?« und so einen Regreß in Gang setzen; wir brauchen dann eine Rahmensprache, in die der Regreß läuft. In der Rahmensprache hat die Frage Sinn, wenn auch nur relativen Sinn: Sinn relativ zu ihr, der Rahmensprache. Stellten wir Referenz absolute in Frage, so wären wir wie einer, der den absoluten Ort oder die absolute Geschwindigkeit und nicht den Ort oder die Geschwindigkeit relativ zu einem gegebenen Bezugsrahmen ermitteln will. Dies gliche auch sehr der Frage, ob unsere Mitmenschen nicht systematisch alles auf dem Kopfe stehend oder in Komplementärfarben sehen -- was sich nie herausfinden läßt.

Wir benötigen eine Rahmensprache, sagte ich, in die der Regreß läuft. Sind wir nun in einen unendlichen Regreß verwickelt? Wenn die Referenzfragen, die wir betrachten, nur relativ zu einer Rahmensprache sinnvoll sind, dann sind Referenzfragen bezüglich der Rahmensprache ihrerseits nur relativ zu einer weiteren Rahmensprache sinnvoll. So dargestellt, scheint die Lage verzweifelt, aber eigentlich unterscheidet sie sich wenig von der Lage, in der wir uns bezüglich Ort und Geschwindigkeit befinden. Wenn Ort und Geschwindigkeit relativ zu einem gegebenen Koordinatensystem gegeben sind, so können wir immer wiederum nach dem Ort seines Ursprungs und nach der Orientierung seiner Achsen fragen; und die Folge weiterer Koordinatensysteme, die eingeführt werden könnten, um die so nacheinander erzeugten Fragen zu beantworten, hätte kein Ende.

In der Praxis beenden wir den Regreß von Koordinatensystemen durch hinweisende Gesten oder etwas Ähnliches. Und in der Praxis beenden wir den Regreß von Rahmensprachen bei Referenzfragen, indem wir uns mit unserer Muttersprache zufriedengeben und ihre Wörter wörtlich verstehen.

Schön und gut im Fall von Ort und Geschwindigkeit beenden in der Praxis hinweisende Gesten den Regreß. Aber was wird aus Ort und Geschwindigkeit, wenn wir von der Praxis absehen? Was wird dann aus dem Regreß? Die Antwort ist natürlich die relationale Betrachtung des Raumes: es gibt keinen absoluten Ort und keine absolute Geschwindigkeit, es gibt nur Relationen von Koordinatensystemen untereinander und letztlich von Dingen zueinander. Und ich glaube, daß die parallele Frage bezüglich der Denotation eine parallele Antwort erfordert: eine relationale Theorie darüber, was die Gegenstände einer Theorie sind. Nicht die Rede davon, was die Gegenstände einer Theorie in einem absoluten Sinne sind, ist sinnvoll, sondern die Rede davon, wie eine Theorie über Gegenstände in einer anderen interpretiert oder reinterpretiert werden kann.

Der springende Punkt ist nicht, daß bloße Materie unerforschlich ist, daß Dinge nur durch ihre Eigenschaften unterschieden werden können. Das ist selbstverständlich. Hier kommt es viel eher auf so etwas an wie das Problem, wie sich ermitteln läßt, ob jemand die Dinge auf den Kopf gestellt oder in Komplementärfarben sieht; der springende Punkt ist nämlich der, daß die Dinge ihre Eigenschaften behalten und trotzdem unbemerkt durch andere ersetzt werden können. Hasen unterscheiden sich schließlich von Hasenteilen und -stadien nicht nur als bloße Materie, sondern auch in ihren Eigenschaften, und auch Formeln haben andere Eigenschaften als Zahlen. Die Lehre aus diesen Überlegungen besteht darin, daß man das Problem, wie sich ermitteln läßt, ob jemand die Dinge auf den Kopf gestellt oder in Komplementärfarben sieht, ernst nehmen und seine Moral umfassend anwenden sollte. Unser Ergebnis ist, um es zu wiederholen, die relativistische These: Es ist sinnlos zu sagen, was die Gegenstände einer Theorie sind, es sei denn, wir beschränken uns darauf zu sagen, wie diese Theorie in einer anderen zu interpretieren oder zu reinterpretieren ist. Nehmen wir an, wir arbeiteten innerhalb einer Theorie und befaßten uns so mit ihren Gegenständen. Dabei verwenden wir die Variablen dieser Theorie, deren Werte diese Gegenstände sind, auch wenn sich dieser Gegenstandsbereich nicht letztgültig spezifizieren läßt. Mit den Prädikaten dieser Theorie lassen sich verschiedene Teile dieses Bereichs auseinanderhalten, und diese Prädikate unterscheiden sich voneinander nur in den Rollen, die sie in den Gesetzen dieser Theorie spielen. Innerhalb dieser Rahmentheorie können wir zeigen, wie eine untergeordnete Theorie, deren Gegenstandsbereich ein Teil des Rahmengegenstandsbereichs ist, durch eine Reinterpretation auf eine andere untergeordnete Theorie reduziert werden kann, deren Gegenstandsbereich ein noch kleinerer Teil ist. Über untergeordnete Theorien und ihre Ontologien zu sprechen ist sinnvoll, aber nur relativ zu der Rahmentheorie mit ihrer eigenen, vorgängig angeeigneten und letztlich unerforschlichen Ontologie.

Daraus ergibt sich jedoch ein Formulierungsproblem. Eine Theorie, so wird man sagen, ist eine Menge vollständig interpretierter Sätze. (Genauer gesagt: Sie ist eine deduktiv abgeschlossene Menge; sie enthält alle ihre logischen Folgerungen, die in derselben Notation abgefaßt sind.) Aber wenn die Sätze einer Theorie vollständig interpretiert sind, dann ist insbesondere der Wertbereich ihrer Variablen festgelegt. Wie verträgt sich damit, daß es sinnlos ist zu sagen, was die Gegenstände einer Theorie sind?

Meine Antwort ist einfach, daß wir nur verlangen dürfen, daß Theorien in einem relativen Sinne vollständig interpretiert sind -- soll überhaupt etwas als Theorie gelten. Wenn wir eine Theorie spezifizieren, müssen wir in der Tat in unseren eigenen Worten vollständig angeben, aus welchen Sätzen die Theorie bestehen soll, welche Dinge als Werte der Variablen fungieren und welche Dinge die Prädikate erfüllen sollen. Insofern interpretieren wir tatsächlich die Theorie vollständig -- relativ zu unseren eigenen Worten und relativ zu unserer heimischen Gesamttheorie, die hinter ihnen steht. Dadurch werden jedoch die Gegenstände der beschriebenen Theorie nur relativ zu denen der heimischen Theorie festgelegt; und diese können mach Belieben wieder in Frage gestellt werden.

Man ist versucht, einfach zu schließen, daß erst der Versuch, über alle Dinge in unserem Gegenstandsbereich zu sprechen, zu Unsinn führt, daß eine universelle Prädikation nur dann sinnvoll ist, wenn sie in einen Rahmengegenstandsbereich eingebettet ist, in dem sie nicht mehr universell ist. Dies klingt vertraut — ist es doch die bekannte These, daß kein echtes Prädikat auf alle Dinge zutrifft, daß sich der Sinn eines Prädi­kates nur aus dem Kontrast zu dem, was es ausschließt, ergibt und daß demnach ein universelles Prädikat sinn-los ist. Aber diese These ist natürlich falsch. Die Selbstidentität z. B. darf gewiß nicht als sinnlos abgestem­pelt werden. Im übrigen läßt sich jede noch so bedeu­tungsschwere Tatsachenaussage so zurechtfrisieren, daß sie über alle Dinge spricht. Statt z. B. nur von Hans zu sagen, er singe, kann man auch von jedem Ding sagen, es sei von Hans verschieden oder singe. Wollen wir nicht die Geprellten sein und gänzlich verstummen, so hüten wir uns besser davor, universelle Prädikatio­nen zu verwerfen.

Carnap beschritt in seinem Buch Logische Syntax der Sprache mit seiner Lehre von den Allwörtern einen Mittelweg. Er behandelte die Allwörter als »quasi-syntaktische« Prädikate, als reine Konzessions-Prädi­kate ohne empirischen Gehalt. Jedoch waren Allwör­ter für ihn nicht einfach Prädikate mit universellem Geltungsbereich wie »ist verschieden von Hans oder singt«. Er versah sie noch mit einem besonderen Merk-mal: Ihr Geltungsbereich sollte schon aufgrund ihrer Bedeutungen und ohne Unterstützung der Natur alle Dinge umfassen. In seinen späteren Schriften erhält diese Lehre von den Allwörtern eine neue Form: Er unterscheidet nun zwischen »internen« Fragen, in de­nen eine Theorie mit empirischen Tatsachen konfron­tiert wird, und »externen« Fragen, in denen die Men­schen mit den relativen Vorzügen der Theorien kon­frontiert werden.

Sollten wir Carnaps Unterscheidungen darauf hin anschauen, ob sie Licht auf die ontologische Relativität werfen? Wir stellten fest, daß man nicht absolut sagen kann, worüber eine Theorie spricht. Fühlen wir nun die Irrealität dessen, was Carnap »externe Fragen« nennt? Wir stellten fest, daß man relativ zu einer Rahmentheorie sehr wohl sinnvoll davon reden kann, worüber eine Theorie spricht. Fühlen wir nun die Realität der internen Fragen der Rahmentheorie? In dieser Richtung scheint mir eine Hoffnung auf Erleuchtung vergeblich. Carnaps Allwörter waren nicht einfach Prädikate mit universellem Geltungsbereich, sondern trugen noch, wie ich sagte, ein zusätzliches Merkmal; und worin dieses Merkmal genau besteht, ist nicht klar. Ich sagte, der Geltungsbereich der Allwörter sei bloß aufgrund ihrer Bedeutungen und nicht mit Unterstützung der Natur universell; aber dies ist ein äußerst fragwürdiges Merkmal. Von »intern« und »extern« zu reden, hilft auch nicht weiter.

Die ontologische Relativität läßt sich nicht dadurch erhellen, daß man verschiedene Arten universeller Prädikate, faktische und nicht-faktische oder externe und interne, unterscheidet. Sie hat nichts mit universellen Prädikaten zu tun. Wenn Fragen nach der Ontologie einer Theorie absolut gestellt sinnlos und relativ zu einer Rahmentheorie sinnvoll sind, so liegt das im allgemeinen nicht daran, daß die Rahmentheorie einen umfassenderen Gegenstandsbereich hat. Wie ich schon sagte, ist man versucht, dies anzunehmen; aber dies ist ein Irrtum.

Was ontologische Fragen, absolut genommen, sinnlos macht, ist nicht ihre Universalität, sondern ihre Zirkularität. Eine Frage der Form »Was ist ein F?« kann nur mit Rückgriff auf einen weiteren Term beantwortet werden: »Ein F ist ein G.« Die Antwort hat nur relativ Sinn: man muß »G« bereits unkritisch akzeptieren.




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