Jochen Hörisch: Die ungeliebte Universität, Exzerpt (BW)

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aus Jochen Hörisch Die ungeliebte Universität. München, Wien 2006, S. 56ff

Mit einem Studenten, wie ihn Goethe in der Schüler-Szene des Faust-Dramas vorführt, wie Eichendorff ihn feiert, wie er in Otto Julius Bierbaums 1897 erschienenem Stilpe-Roman, in Gustav Sacks Roman Ein verbummelter Student (1917) oder in Gadamers Autobiographie Philosophische Lehrjahre vorkommt, haben diese E-Mail-freudigen Studierenden nichts mehr gemein. So als wollten sie allzu windschnittigen Medientheorien lebensweltliche Plausibilität verleihen, findet sich in den studentischen E-Mails nicht einmal der Ansatz jenes Wissens-Begehrens, das den ratsuchenden Studenten in Fausts Stube treibt. Das Medium ist die Botschaft: die E-Mail ist die Kommunikationsform der spätmodernen Bologna-Hochschule, so wie die multiple-choice-Klausur die Form ihrer Studienerfolgs-Messung ist. Die wenigen Dozenten, die Seminararbeiten noch in der Sprechstunde kommentieren wollen, statt die Studierenden die Bescheinigungen über erlangte credit points in irgendwelchen Sekretariaten abholen zu lassen, wirken deshalb eigentümlich unzeitgemäß und werden von ihren Kunden auch so wahr-genommen. Selbst dann, wenn sie wieder vermehrt mit ihrem Professorentitel angesprochen und sogar in E-Mails mit allen akademischen Würden angeschrieben werden. Studenten, die ein wirkliches Wissens-Begehren umtreibt, wirken in der Bologna-Prozeß-Hochschule ähnlich exotisch.

Bologna-Prozeß — aus Dozenten-Perspektive heißt das: die Studienabbrecherquote geht signifikant zurück; die Seminare werden dadurch noch voller (denn es gibt ja keine dieser Entwicklung korrespondierende Aufstockung des Lehrkörpers); die Prüfungsverpflichtungen steigen deutlich an, weil viele zuvor prüfungsfreie Lehrveranstaltungen wie etwa die klassische Vorlesung jetzt mit einer Klausur verbunden werden; das Verhältnis zwischen Dozenten und Studieren-den wird noch formeller und bürokratischer als zuvor schon, es orientiert sich klar und schnörkellos am Dienstleistungs-Schema. Literaturtaugliche Figuren wie der verbummelte Student (so der Titel des Romans, den Gustav Sack 1917 im Fischer Verlag veröffentlichte), das verkannte Genie, der Lebenskünstler oder der Künstler-Professor, der Gelehrte und der Charismatiker merken, so sie noch vorhanden sind, daß die postmoderne Bologna-Hochschule nicht mehr ihr Ort ist. Der platteste Topos linker wie rechter Kulturkritik wird so plausibel und wahr wie nie zuvor: die Universität wird ganz und gar zu einer ökonomischen Veranstaltung.

Das oberste Machtzentrum, das neueste Universitätsverfassungen vorsehen, ist denn auch ein »Universitätsrat«, der nicht nur in begrifflicher Hinsicht nach dem Vorbild des Aufsichtsrats von Großunternehmen zusammengesetzt wird. In ihm sind die Professoren, die doch stets auf angemessene »Paritäten« achteten, wenn es um linke Forderungen etwa nach »Drittelparität« in den akademischen Entscheidungsgremien ging, deutlich in der Minderzahl. Vertreter aus der Wirtschaft und den Verbänden haben im Universitätsrat, der auch über abzubauende und neu einzurichtende Fächer, Studiengänge, Institutszusammenlegungen, Universitätsfusionen und nicht zuletzt Berufungen entscheidet, die Mehrheit. Eine Entwicklung, gegen die sich, so als sei die Antikapitalismus-Rhetorik der Achtundsechziger-Generation ein für allemal erschöpft, kaum mehr öffentlich Bedenken artikulieren. Eine halbe Ausnahme sind die »Fünf Einsprüche gegen die technokratische Umsteuerung des Bildungswesens«, die im Sommer 2005 von Erziehungswissenschaftlern unter dem Titel »Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb!« vorgelegt wurden

Ein Regiment der knappen Zeit, des knappen Geldes und der knappen Aufmerksamkeit hat die Hochschule erfaßt. Das gilt auch in der profansten Hinsicht — der auf den schnöden Mammon. Studierende müssen, das ist, wenn es nicht schon praktiziert wird, allgemein absehbar, für ihr Studium einigermaßen ordentlich zahlen (dafür gibt es gute Gründe — siehe unten Kapitel 7). Professoren werden mit der neuen W-Besoldung deutlich schlechter als zuvor bezahlt." Zulagen zum Grundgehalt erhalten sie nur dann, wenn sie erfolgreich sogenannte Drittmittel, also Gelder für Forschungsvorhaben etwa bei der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) oder bei der VW-, Siemens- bzw. Thyssen-Stiftung einwerben. Traditionsreiche andere Kriterien für professorale Leistung wie akademischer Lehr- und Prüfungserfolg, wie prestigereiche, nicht selbstsubventionierte und vielbeachtete Publikationen oder wie Vortragseinladungen an renommierte universitäre und außeruniversitäre Institutionen zählen bei den Instanzen, mit denen Berufungsverhandlungen geführt werden, schlechthin nicht (weder in den Rektoraten noch in den Ministerien). So lautet die übereinstimmende Auskunft von neuberufenen KollegInnen auf W-Stellen, die die »Zielvereinbarungen« mit ihren Hochschulen unterschrieben haben. Die Drittmittel-Einwerbung als einziges besoldungsrelevantes Erfolgskriterium für Professoren — das ist auch universitätsgeschichtlich buchenswert. Die vergleichende und umfassende Geschichte der universitären Einwerbung von Forschungsmitteln ist noch nicht geschrieben Aber auch anekdotische Hinweise vermögen das damit verbundene Problem anzuzeigen. Weder Hans-Georg Gadamer noch Hans Blumenberg noch Niklas Luhmann haben je Drittmittel bei großen Forschungs-Institutionen eingeworben. Bemerkenswerte Werke haben sie wohl nicht dennoch, sondern des-halb hinterlassen: sie verfügten über Zeit, Konzentration und eben durchaus auch eine freundliche Rücksichtslosigkeit gegenüber jenen selbst- und fremdgesetzten Zwängen, denen schon der Begriff >Drittmittel< zum Ausdruck verhilft. Daß der Umkehrschluß — wer erfolgreich Forschungsgelder ein-wirbt, kann kein bedeutendes Werk hinterlassen — unzulässig wäre, zeigt übrigens ein Blick auf die Frankfurter Schule. Horkheimer und Adorno hatten in Zeiten, als dieser Begriff noch nicht kurrent war, bemerkenswert große Erfolge bei der Einwerbung von Drittmitteln. Wer allerdings, um bei diesem Beispiel zu bleiben, den bösen Blick nicht scheut, wird bald feststellen, daß sich die beiden scharfen Kritiker szientistischer Arbeitsteilung glänzend ergänzten, indem sie eben-diese Arbeitsteilung virtuos praktizierten. Horkheimer war der frühe und erfolgreiche Wissenschaftsmanager, Adorno derjenige, der ein wirkliches Werk hinterließ.

Zum indiskreten und sicherlich problematischen Charme der Alma mater zählte, daß sie sich offensiv zu einer Logik und zumal Psycho-Logik des Überflusses bekannte. Das gilt in handfester wie in tiefenhermeneutischer Hinsicht. Professoren wurden ordentlich bis sehr gut besoldet. Ordentlich, wenn man ihre Einkünfte mit denen erfolgreicher Ärzte, Rechtsanwälte oder Manager vergleicht, sehr gut, wenn man bedenkt, daß sie ihre Obsessionen und Leidenschaften ungehindert zu ihrem Beruf machen konnten. Die Kombination aus der Sicherheit des Beamtendaseins, einer vergleichsweise hohen Besoldung und einer unvergleichlichen Selbstbestimmung auch im Hinblick auf die alltägliche Lebensführung machte das Professorendasein ungemein attraktiv. Das gilt mit gewissen Einschränkungen bis heute bzw. bis in die Zeiten vor der Einführung der neuen W-Besoldungsordnung. Im Vergleich zu anderen Berufen etwa in den Bereichen Wirtschaft, Selbständige und Medien hat die Attraktivität (auch die ökonomische) des Professorenberufs allerdings deutlich abgenommen. Der Professor noch der Sechziger-und Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts hatte ein Lehrdeputat von sechs Stunden (was im internationalen Vergleich schon damals hoch war; amerikanische Professoren unterrichten in der Regel vier Stunden pro Woche), heute muß er mindestens neun Stunden lehren; er hatte signifikant weniger Gremien- und Prüfungsverpflichtungen als heute üblich; das Wort und das aufwendige Tätigkeitsfeld »Drittmitteleinwerbung« waren ihm fremd; der Abstand etwa zur Besoldung von Lehrern war erheblich größer; und er wurde, wie es vornehm hieß, emeritiert und nicht pensioniert, was nichts anderes bedeutete, als daß er bis zu seinem Lebensende seine vollen Bezüge erhielt. Kurzum: der klassische deutsche Professor hatte allen Grund, der Alma mater voll Dankbarkeit zu huldigen. Denn sie gewährte ihm ein Höchstmaß an beamteter Sicherheit, an Unabhängigkeit, an Prestige und relativ viel Geld. Vor allem aber an Muße. »Otium«/»Muße» waren Schlüsselwörter der Alma mater. Heute klingen sie geradezu schockierend unzeitgemäß, so anachronistisch wie kein weiterer Begriff aus der universitären Sphäre. Wer (Auto-)Biographien von Professoren und über Gelehrte des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts liest, dem fällt dieses Datum sofort voll Neid auf: Wie viel Zeit, Muße, Ruhe und Gelassenheit hatten doch die Altvorderen. Professoren: das waren die, die in Ruhe gelassen werden wollten und in Ruhe gelassen wurden, weil sie in Ruhe forschen, edieren, sammeln, herausgeben, lesen, schreiben und lehren wollten. Keine Gremieninflation, keine E-Mail-Flut, keine übervollen Seminarräume, keine Deputatserhöhung, kein Drittmitteleinwerbungszwang, keine Verwaltungspflichten, keine Klausur-berge, kein Verordnungsüberschwang, keine Dauerreform, keine Kommissionitis, kein Kongreßhype, kein publish-or-perish-Imperativ, keine Massen-Gutachten-Pflichten und (wie drückt man das kaum zu bestreitende sozialhistorische Datum politisch korrekt aus?) keine emanzipierte, berufstätige Ehefrau störte die Muße des Professors (selbstverständlich hatte der Professorenhaushalt mindestens ein Dienstmädchen). Die einzige Pflicht, die ihn unter Druck setzte, war die, seine in der Tat beträchtlichen Privilegien zu rechtfertigen: durch kluge Schüler und durch ein Werk. Zur offensiven Überfluß-Semantik der Alma mater gehörte aber nicht nur der handgreifliche Aspekt der groß-zügigen Alimentierend ihrer Professoren sowie die kalte Rückseite dieser Medaille, nämlich die schlichte Nicht- bzw. Elends-Besoldung all derer, die keinen »Ruf» erhielten, nämlich der Privatdozenten und der außerplanmäßigen Dozenten. Diese konnten allerdings »Hörergelder« beziehen und bei großem Publikums-Erfolg damit mehr schlecht als recht leben und überdies die Ordinarien ärgern, die weniger gute akademische Lehrer waren. Zur akademischen Hochschätzung des Überflusses gehörte auch der tiefenhermeneutische Aspekt einer strikten Tabuisierung von Effizienz- und Nützlichkeitsfragen. Wer sich in der Weinstube nach dem dritten Viertel am Kopf kratzte und danach fragte, was es denn nun eigentlich bringe, etwas und gar sehr Gründliches über die Feinheiten der zweiten Lautverschiebung, Goethes Tun und Lassen im September 1783, die Vollständigkeit der Kantischen Kategorientafel oder die Unterschiede zwischen dem Kirchen- und dem Alltagsslawisch zu wissen, zu publizieren und zu lehren, machte sich der Sünde wider den Geist schuldig. Er galt als Barbar, als amusischer Mensch, als Kulturbanause und mußte sich, wenn man denn überhaupt noch mit ihm sprach, strenge Hinweise auf geistige Werte an, für und in sich selbst gefallen lassen. Im Zweifelsfall galt das Prinzip »My chair is my castle»: Was der Ordinarius für wichtig und relevant erachtete, war wichtig und relevant, weil ein Ordinarius es dafür erachtete.

Nützlichkeitsdenken, Effizienzkriterien, Pragmatismus, Funktionalismus: all das war das Andere der Universität. Ihr Bekenntnis zur Grundlagenforschung war abgründig. Was andere, die sich um weniger Grundlegendes, gar um Verwertungsfragen kümmern, mit den Wissensbeständen und den Einsichten anfingen, die die Universität hervorbrachte, das ging die Universität selbst nichts oder allenfalls am Rande an. Sie sonnte sich im Glanze eines Überflusses, der von der tief-sinnigen Vermutung getragen wurde, daß der Überfluß not-wendig ist. Sich nicht rechtfertigen zu müssen für absonderliche Interessen, Fixierungen, Obsessionen, Spielereien – das war das eigentliche Privileg der Alma mater. lnsofern war sie tatsächlich eine aristokratische Institution: sie war immer schon und unbefragt gerechtfertigt und konnte sich eben-deshalb das Recht auf Fragestellungen aller Art herausnehmen. Ihre aristokratischen Privilegien kombinierte (zumal) die (humboldtsche) Universität mit einer republikanischen Binnenverfassung, die sich allerdings strikt auf bestallte Professoren beschränkte. Der Rest der akademischen Welt, ob Pedell, Student, Assistent oder Sekretär(in), hatte schlicht nichts zu sagen. Ordinarien hingegen erkannten sich, aller lästerlichen Kollegen-Sottisen zum Trotz, untereinander als gleiche an. Zwar hielt sich und sein Fach selbstredend fast jeder Professor für bedeutender und klüger als die Kollegen und die Nachbardisziplinen, denen allenfalls der Status von Hilfswissenschaften für das eigene Fach zukam. Aber man ließ sich in Ruhe. Hans-Georg Gadamer hat dafür im Gespräch ein drastisches Bild bereitgehalten: jeder Ordinarius ist ein glücklicher Affe auf seiner Palme – solange sich kein anderer Affe erfrecht, dieselbe Palme zu besteigen. Dann muß er mit Kokosnußbeschuß rechnen.

Daß ältere Professoren über den Verfall der guten alten Universität klagen und die neuen Hochschulen nicht lieben, liegt auf der Hand. Für die rapide Erosion der Alma mater gibt es viele Gründe. Zwei aber sind besonders gewichtig. Der eine ist fast ein wenig zu evident: es studieren um das Jahr 2000 nicht mehr (wie um 1900) ca. vier Prozent eines Jahrgangs, sondern ca. vierzig Prozent. Aus einer überschau-baren Stätte der Elitenausbildung ist eine unüberschaubare Massen-lnstitution geworden, die natürlich anders organisiert sein und sich anders verstehen muß als ihre vornehme und selbstbewußte Vorgängerin. Der zweite Grund ist weniger offensichtlich, und seine Erörterung stellt vor deutlich heiklere Aufgaben als die, unbezweifelbare Zahlen zu nennen: es ist sehr fraglich, ob die meisten deutschen Professoren mit ihren Privilegien klug umgegangen sind.





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